„Ich denke es ist notwendig, an die Grenzen zu gehen. Was mir Angst macht, zieht mich an.“ Joan JonasDie wegweisende Künstlerin Joan Jonas (*1936, New York City, USA) hat durch ihr konstantes Experimentieren mit Performance, Video und Installation die Grenzen der Kunst in den letzten fünf Jahrzehnten immer wieder verschoben und neue Wahrnehmungsmodi erprobt. Sie hat zahlreiche Generationen an Künstler*innen beeinflusst und dauerhafte Beziehungen untereinander etabliert. Das Haus der Kunst zeigt ab 9. September die bisher umfangreichste Einzelausstellung in Deutschland, die Jonas’ Ansatz der transnationalen Zusammenarbeit reflektiert und ihre dynamische Praxis der Transformation zwischen Medium und Zeit entlang wiederkehrender Themen nachzeichnet.
„Das bahnbrechende Werk von Joan Jonas ist ein grundlegender Schritt in dem Transformationsprozess, den das Haus der Kunst durchläuft. Ich fühle mich geehrt, erneut mit einer so einzigartigen und außergewöhnlichen Künstlerin zusammenzuarbeiten und freue mich darauf, ihre faszinierenden, freudigen, experimentellen und zum Nachdenken anregenden Welten mit unserem Publikum zu teilen.“ Andrea Lissoni, künstlerischer Direktor Haus der Kunst und Ko-Kurator der Ausstellung
Jonas gehörte zu den Begründer*innen der Performance, als diese in den 1960er und 1970er Jahren nach ihrem Studium der Skulptur und Kunstgeschichte in New York aufkam. Jonas’ Schaffen ist von einem Interesse an der sozialen Funktion von Narration und Ritus für Gemeinschaften geprägt, neben frühen Untersuchungen medial vermittelter, geschlechtlicher Zuschreibungen. Seit den 2000er Jahren beschäftigt sich die Künstlerin im Zuge des Klimawandels vermehrt mit dringenden ökologischen Fragestellungen, und stellt dabei nicht-menschliche Lebensformen und -räume in den Fokus ihrer künstlerischen Betrachtung.
Entsprechend Jonas’ prozessualer und zyklischer Arbeitsweise, in der sie bestehende Performances oder Installationen aufgreift, fortschreibt und medial verschiebt, verfolgt die Werkschau am Haus der Kunst keine chronologisch-lineare Struktur. Sie fächert sich prismatisch auf, um die inhaltlichen und formalen Verknüpfungen zwischen Jonas’ Arbeiten unterschiedlicher Zeitperioden aufzuzeigen.
Der Eingangsbereich des Haus der Kunst wird von dem Video Wolf Lights (2004/5) beleuchtet. Das Werk zeigt exemplarisch, wie Jonas Techniken des Films und Theaters kombiniert, um Herrschaftsstrukturen zu verhandeln. In der Mittelhalle wird erstmals in Europa ihr jüngstes Werk Rivers to the Abyssal Plain (2021) präsentiert. Es steht für Jonas’ gegenwärtige Beschäftigung mit dem vielfältigen Ökosystem des Ozeans und ihren künstlerischen Umgang mit Forschung. Das Verhältnis zwischen Natur und künstlerischer Schöpfung bestimmt auch die im Zentrum der Ausstellung stehende multimediale Installation Reanimation (2010/2012/2013). Die Installation wurde auf der documenta 13 uraufgeführt und stellt in vier Videoprojektionen erhabene Aufnahmen isländischer und norwegischer Gletscher dem Akt des Zeichnens im Schnee gegenüber.
Die Ausstellung versammelt weitere historische Schlüsselwerke, die einen Wendepunkt in Jonas’ Schaffen markieren. Die Installation Stage Sets (1976) formuliert einen erweiterten, dynamischen Skulpturbegriff und begründete Jonas’ Praxis der Übersetzung von performativen Aufführungs- in manifeste Ausstellungsformate. Juniper Tree (1976/1994) bildet das erste Werk Jonas’, das gänzlich aus einer lang tradierten, kollektiven Erzählung abgeleitet wurde. Lines in the Sand (2002) zeugt von ihrem Interesse an der Umschreibung mythologischer Narrative vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen. Drei Werke aus der Serie My New Theater (1997–2006) erinnern an ein minimalistisches Objekt, eine Guckkastenbühne und eine Camera obscura. Sie vereinen damit Jonas’ grundsätzliche Verhandlung von Raum, Illusion und Rahmung in der Bildproduktion.
Ergänzt wird die Ausstellung durch zwei Performances von Joan Jonas: Mirror Piece I & II (1969/2018), in der Jonas das wiederkehrende Motiv des Spiegels in ihr Werk einführte, um Machtstrukturen des Blickes und geschlechtliche Rollenbilder zu thematisieren. Die Performance schlägt damit den Bogen zu zahlreichen Werken der Ausstellung (8.–10.9.22). In der europäischen Erstaufführung von Out Takes: What the Storm Washed In (2022) vereint Jonas Videoaufnahmen mit Live-Musik, Text und Performance. Die musikalische Komposition stammt von Ikue Mori (13.11.22).