Am 30. April 1965 machte das Life Magazin mit einem Cover auf, das in die Geschichte eingehen sollte: Fötus, 18 Wochen hieß das Titelbild des schwedischen Fotojournalisten Lennart Nilsson (1922–2017) lapidar und bedeutete eine Sensation. Was bis dato höchstens eine Handvoll Wissenschaftler und Mediziner erblickt hatte, wurde nun in Farbe und brillanter Schärfe bis ins Detail für die breite Öffentlichkeit sichtbar: das Leben vor der Geburt. In Kooperation mit dem Nachlass des Fotografen zeigt WestLicht rund 100 von Nilssons Arbeiten erstmals in einer umfangreichen Ausstellung.Die Gesamtauflage des Life Magazin von 8 Millionen war binnen weniger Tage vergriffen, der Titel blieb die am schnellsten verkaufte Ausgabe in der Geschichte der Zeitschrift, vor der Mondlandung und dem Kennedy-Attentat. Der Stern publizierte die Bilder ebenso wie Paris Match. Noch im selben Jahr veröffentlichte Nilsson mit A Child is Born eine erweiterte Version des Life Bildessays als Buch für werdende Eltern – ein Bestseller bis heute, der in 20 Sprachen übersetzt und in bislang sechs Auflagen über 50 Millionen Mal verkauft wurde.
Auch 55 Jahre später in heutigen Zeiten von 3D-Ultraschall faszinieren die Bilder, entstanden weit vor dem allgemeinen Einsatz der Sonografie in der Geburtsvorbereitung in den 1970er-Jahren, durch ihre frappierende Detailfülle und Qualität. Nilsson hatte seit den 1950er-Jahren an den Aufnahmen gearbeitet, ausgerüstet mit Spezialkameras, Linsen und Endoskopen, die Firmen wie Zeiss oder Jungers Optiska für ihn und mit ihm entwickelten.
Über die technische Pionierleistung hinaus ist es aber vor allem der kaum zu überschätzende kulturelle Einfluss, der die Bilder zu Meilensteinen der Fotografie im 20. Jahrhundert macht. im Alleingang haben sie die populäre Vorstellung vom Wachstum eines Kindes im Mutterleib geprägt – unabhängig von der Tatsache, dass nur ein Teil der Fotografien tatsächlich in utero entstand und es sich bei der Mehrzahl der Aufnahmen um vorzeitig beendete Schwangerschaften handelt. Die Bilder und ihre eigene Ästhetik – der zerbrechliche, fast transparent erscheinende Fötus, der ruhig vor einem dunklen Hintergrund zu schweben scheint – trafen gerade in einem von Umbrüchen zerrissenen Jahrzehnt wie den 1960ern einen Nerv: als Ikonen eines universellen Humanismus und als Dokumente eines noch weitgehend intakten Fortschrittsoptimismus. Schließlich wurden mit ihrer Publikation Schwangerschaft und pränatale Entwicklung mit einem Mal zum öffentlichen Diskussionsgegenständen und es dauerte nicht lange, bis die Bilder von der Pro-Life-Bewegung gekapert wurden, eine Verwendung, gegen die sich Nilsson freilich stets gewehrt hat.
Begleitet von umfangreichem Archivmaterial und den entsprechenden Magazinveröffentlichungen der Zeit, zeichnet WestLicht den Weg des Fotojournalisten bis zum Kern der Ausstellung, dem gefeierten Meisterwerk seiner Karriere 1965 nach und zeigt frühe, bis dato kaum bekannte Wissenschaftsfotografie und Reportagen, die Nilsson von einer schwedischen Hebamme in den Kongo und die Arktis und vom Shooting mit Filmstar Ingrid Bergman zum Wiener Architekten Josef Frank führten.