Vivan Sundaram gehört zu einer Generation von Künstlern, deren Werk stark von Indiens anti-kolonialer Revolte geprägt ist. Er wurde 1943 in Simla, Indien geboren, als Neffe der herausragenden indischen Malerin Amrita Sher-Gil und Enkel von Umrao Singh Sher-Gil. Die letzten Jahre seines Studiums (1966-1968) verbrachte er in London. Hier wurde er von R.B. Kitaj ausgebildet und widmete sich zunächst der Malerei. Seine frühen Gemälde, mit denen er ästhetisch zwischen Minimalismus und Pop Art ansetzte, galten als verschollen, wurden jedoch kürzlich wiedergefunden und können daher in der Ausstellung gezeigt werden. Eines davon entstand 1968 und trägt die emblematische Jahreszahl auch als Titel („May 1968").Als Student erlebte Sundaram im London der späten 1960er-Jahre den Höhepunkt der gesellschaftlich-politischen Rebellion der Nachwuchsgeneration. Als er 1970 nach Indien zurückkehrte, stand er der kommunistischen Partei nahe. Aus diesem Blickwinkel verfolgte er, wie pragmatisch Indien Anschluss an den globalen Kapitalfluss fand und sich zu einer der größten Wirtschaftsmächte entwickelte. Gleichzeitig sah er, welche Risse sich durch Politik und Gesellschaft zogen; dass kommunale Feindseligkeiten im politisch rechten Spektrum eskalierten, Intoleranz an Boden gewann und es zu sektiererischen Gewalttaten kam.
Im Haus der Kunst hat Sundaram nun seine bisher umfassendste Überblicksausstellung in einer europäischen Institution. Die Auswahl und Anordnung der Werke zeigt sowohl die Veränderung als auch die Kontinuität von Form und Inhalt. Zwei Werke indessen stehen wie Monolithen für sich und werden auch als solche präsentiert: „Memorial" (1993/2014) und „12 Bed Ward" (2005).
Mit „Memorial" wurde Sundarams Werk explizit politisch. Zum Ausgangspunkt wählte Sundaram das Zeitungsfoto von einem auf der Straße liegenden Toten. Es entstand während der Ausschreitungen in Mumbai (damals Bombay) im Dezember 1992/Januar 1993. In Folge der Zerstörung von Babri Masjid, einer Moschee aus dem 17. Jh. im nordindischen Ayodha durch Hindus aus dem rechten Flügel, kamen etwa 900 Menschen ums Leben. Von bisher unbekanntem Ausmaß, stellten diese Ausschreitungen das politische Selbstverständnis Indiens vor neue Herausforderungen. Die Bedrohung durch äußere Kräfte - die einstige Kolonialmacht Großbritannien - war einer inneren Krise gewichen.
Die Abfolge von Stationen gibt der Trauer in „Memorial" zeremoniellen Charakter. Inmitten einer minimalistischen Ästhetik aus Metallbarrieren und roten Pflastersteinen präsentiert Sundaram in immer neuen Variationen das Foto des Toten: malträtiert durch Nägel, verbrannt, bandagiert, mit einem Schleier verdeckt oder mit einem angedeuteten Flügel versehen, als folge auf die körperliche Auslöschung eine sublime Transformation. Durch diese Stilmittel der Variation und der Wiederholung besteht er auf einem würdigen Denkmal für dieses zu früh geendete Menschenleben und verleiht ihm Sinn. Wie sich einst Antigone hartnäckig für ein Begräbnis ihres Bruders Polyneikes eingesetzt hatte, der unbestattet auf dem Schlachtfeld lag, so setzt sich Vivan Sundaram für diesen Unbekannten ein.
Auch „12 Bed Ward" steht als raumgreifende Installation für sich. In zwölf rostigen Bettgestellen sind die Sprungfedern ersetzt durch Sohlen ausrangierter Gummischuhe, wie Lumpensammler sie ergattern. Selbst meistens barfuß, können sie sich „den Luxus von Ironie über die Gummisohlen, aus denen die ‚Betten‘ gemacht sind, nicht leisten" (Deepak Ananth). Die Sohlen werfen Schatten auf den Boden und ergeben ein teppichartiges Muster in Chiaroscuro. Das Werk ist eine Solidaritätserklärung an die Lumpensammler, Schlüsselfiguren an den Rändern der Gesellschaft.
Mehrfach hat Sundaram in seinen Arbeiten Müll verwendet. Deepak Ananth argumentiert, dabei gehe es weniger um rauen Realismus, als um ein weltweites Phänomen. In den Städten sammle sich eine spezifische Form von Müll: Brillante Erfindungen der menschlichen Intelligenz kehren in der Gestalt von Müll als Farce zurück. Die Errungenschaften der Modernisierung werden zu einer Art Vorhölle.
Ein besonderes Verständnis von Materialtreue zeichnet Sundarams Gesamtwerk aus. Schon die Kohlezeichnungen von 1988 kreisen formal wie inhaltlich um Asche, Schlacke, Glut, Rauch und Ruinen, kurz: um das für Kohle typische semantische Feld. In „House" verwendetet Sundaram die handgefertigte Papierart Kalamkhush. Es war das von Mahatma Gandhi bevorzugte Papier; auch wenn Sundaram ihm Symbole wie Hammer und Sichel einprägt, trägt es somit latent auch den ideologischen Stempel der Gewaltfreiheit.
Wenn Sundaram auf historische Ereignisse oder Bilder seines Umfeldes blickt, dann in der Überzeugung, dass es keine einzig gültige Version gibt. Geschichte stellt sich für ihn dar wie Textmaterial, das er formen kann wie ein Autor - teilweise mit anderen Autoren im Kollektiv. So kommt wie im zeitgenössischen Roman eine Vielzahl von Stimmen zu Wort, jede mit eigener Perspektive. Dabei sind die Möglichkeiten, das Erzählte neu und anders zu arrangieren, schier unbegrenzt. Mit dieser Vielstimmigkeit stärkt Sundaram die Rolle und Kraft jedes einzelnen Bürgers und Individuums. Für „One and the Many" etwa beauftragte er eine Gruppe von Nachwuchskünstlern, eine monumentale Zementskulptur von Ramkinkar frei und in verschiedenen Stilrichtungen zu interpretieren - jedoch in Terrakotta ausgeführt, und in einer Höhe von maximal dreißig Zentimetern. Denkbar weit vom Material und Maßstab des Originals entfernt, ergeben die vierhundert Kleinplastiken aus Lehm ein Sinnbild für Gemeinschaft und Zusammenhalt.
Die Ausstellung wird von Deepak Ananth kuratiert. Der Katalog erscheint am 4. Juli bei Prestel, mit einem Vorwort von Okwui Enwezor, Beiträgen von Deepak Ananth, Andreas Huyssen, Katya García Antón und Ashish Rajadhyaksha; gebundenes Buch (engl.), Pappband, 200 Seiten, 21,5 x 28,0 cm, 115 farbige Abbildungen, ISBN: 978-3-7913-5775-1, 49 Euro.