100 Jahre Wiener ModerneDie Wiener Moderne war eine der wichtigsten Kunst- und Kulturepochen der österreichischen Geschichte. Das Habsburgerreich, das seit 1848 von Kaiser Franz Joseph I. regiert wurde, war um 1900 zerrissen zwischen einem katholisch-konservativen Selbstbild und der Industrialisierung mit all ihren wirtschaftlichen und sozialen Folgewirkungen. Die Nationalitätenkonflikte im Vielvölkerstaat spitzten sich mehr und mehr zu. Wien hatte damals über zwei Millionen Einwohner und war zu einem Schmelztiegel der mitteleuropäischen Kulturen geworden.
In diesem Umfeld entwickelte sich die Wiener Moderne. Für Karl Kraus war sie eine „Versuchsstation des Weltuntergangs“, für andere ein Laboratorium, in dem zwischen den Künsten und Wissenschaften ständig neue, manchmal beständigere, manchmal flüchtige soziale Mischungen entstanden; mit wenigen Ausnahmen – wie Ludwig Wittgensteins Erprobung eines Lebens als Volksschullehrer – fanden diese immer in einer vorwiegend jüdisch-bürgerlich geprägten und liberal denkenden Schicht statt.
Wien feiert 2018 das 100-Jahr-Jubiläum der Wiener Moderne unter dem Motto „Schönheit und Abgrund“: 1918 sind mit Gustav Klimt, Egon Schiele, Otto Wagner und Koloman Moser einige ihrer wichtigsten Protagonisten gestorben. Die Schau „Berg, Wittgenstein, Zuckerkandl“ reiht sich in diesen Jubiläumsreigen ein und legt ihren Fokus auf die literarischen Bezüge und Verbindungslinien, die es sowohl beim Komponisten und Musikrevolutionär Alban Berg, als auch beim Philosophen und Architekten Ludwig Wittgenstein und bei der Salonnière, Publizistin und Kunstförderin Berta Zuckerkandl reichlich gab.
Im Fokus: die LiteraturAlban Berg verstand sich selbst als Komponist und Musik-Schriftsteller. Seine Vertonung von Texten Peter Altenbergs provozierte anlässlich der Uraufführung 1913 tumultartige Reaktionen. Bergs Opern nach den Dramen „Woyzeck“ von Georg Büchner und „Lulu“ von Frank Wedekind zählen zu den wirkmächtigsten Werken der musikalischen Moderne.
Ludwig Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“ wurde 1918 vollendet und kann als philosophisch-literarisches Schlüsselwerk der Epoche gelesen werden. Der in mehreren Variationen überlieferte Satz „Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten“ zeigt, wie sehr die Sprache der Literatur in alle Richtungen ausstrahlte.
Auch für die Salonnière Berta Zuckerkandl war die Literatur zentral. Sie empfing in ihren Salons zahlreiche Persönlichkeiten, darunter die wichtigsten AutorInnen ihrer Zeit wie zum Beispiel Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Stefan Zweig.
Ausgewählte Objekte der Schau zeigen zudem, dass die drei Wiener Positionen auch in einem internationalen Kontext stehen: Ein Plakat erinnert an die Uraufführung von Alban Bergs „Wozzeck“ 1925 in Berlin; ein Typoskript mit einer langen „List of questions“ zeigt Ludwig Wittgensteins Arbeit an der Übersetzung des „Tractatus“, der erst vier Jahre nach der Fertigstellung erstmals als Buch in einer zweisprachigen Fassung in England erschien. Berta Zuckerkandl war über ihre Familie eng mit Frankreich verbunden. Diese Beziehung wird etwa durch Briefe des späteren französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau belegt; er war um 1900 ein enger Freund der Familie, mit dem Zuckerkandl die Ausstellungen der künstlerischen Avantgarde in Paris besuchte.
Alban BergAlban Berg (1885–1935) entstammte einer wohlhabenden Wiener Bürgerfamilie. Von Jugend an zeigte er sich für die musikalischen und literarischen Strömungen der Zeit sehr empfänglich. War es auf literarischem Gebiet vor allem Karl Kraus, dessen polemische Brillanz ihn faszinierte, so wurde auf dem musikalischen Sektor Arnold Schönberg sein Lehrer und Mentor. Sieben Jahre lang, von 1904 bis 1911, war er Schönbergs Schüler. Wie eng die Verbindung war, zeigen etwa Briefe Schönbergs an Berg oder die ausgestellte Entwurfsfassung von Bergs Aufsatz „Warum ist Schönbergs Musik so schwer verständlich?“ aus dem Jahr 1924. Ebenfalls in der Schau zu sehen ist das Plakat zum legendären „Watschenkonzert“ vom 31. März 1913 im Musikvereinssaal in Wien. Das Orchester des Wiener Konzertvereins, der Vorläufer der Wiener Symphoniker, spielte unter der Leitung von Arnold Schönberg u. a. Bergs „Orchesterlieder nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg“. Das Publikum war entsetzt über die neuartige Musik, aufgrund der tumultartigen Szenen musste das Konzert abgebrochen werden.
Breitenwirkung als Komponist erreichte Berg erst 1925 mit der Uraufführung seiner Oper „Wozzeck“ nach Georg Büchners gesellschaftskritischem Drama „Woyzeck“. Trotz der klanglichen Neuheit des Werkes wurde die Uraufführung unter Erich Kleiber an der Berliner Staatsoper ein großer Erfolg. Die Oper ist Alma Mahler gewidmet, die den Druck des ausgestellten Klavierauszugs finanziert und Berg damit ermöglicht hatte, das Werk an verschiedenen Opernhäusern einzureichen. Plakate und originale Musikhandschriften gibt es aber nicht nur zu „Wozzeck“, sondern auch zu „Lulu“ zu sehen, Bergs zweiter Oper nach Frank Wedekind, die er allerdings nicht mehr vollenden konnte. Berg war dem Stoff durch die 1905 von Karl Kraus initiierte österreichische Erstaufführung von Wedekinds Drama „Die Büchse der Pandora“ begegnet. Im Musikraum der Ausstellung sind Auszüge aus „Wozzek“ und den Altenberg-Liedern zu hören, begleitet u. a. von Projektionen historischer Bühnenbilder der Oper.
Wie groß Bergs Interesse für Literatur zeitlebens war, zeigt aber nicht nur die Wahl literarisch hochkarätiger Texte bei seinen Vokalwerken, sondern auch seine persönliche Bekanntschaft mit Peter Altenberg und Karl Kraus. Eine langjährige Freundschaft verband Berg zudem mit dem Philosophen Theodor W. Adorno, der in seinen Wiener Jahren Kompositionsunterricht bei Berg genommen hatte; sein Arbeitsheft zu seinem späteren musikphilosophischen Klassiker „Berg. Der Meister des kleinsten Übergangs“ ist im Original ausgestellt.
Ludwig WittgensteinLudwig Wittgenstein (1889–1951) ist einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Zugleich ist er auch – dank seiner bemerkenswerten Biographie, seiner charismatischen Persönlichkeit und nicht zuletzt seines familiären Umkreises – eine der faszinierendsten Figuren der österreichischen Geistesgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein geniales Frühwerk, den „Tractatus logico-philosophicus“, schrieb er während des Ersten Weltkriegs und vollendete es heuer vor 100 Jahren im August 1918. Wittgenstein unterrichtete in den folgenden Jahren an Volksschulen im südlichen Niederösterreich, entwarf anschließend gemeinsam mit dem Loos-Schüler Paul Engelmann im dritten Bezirk in Wien ein bemerkenswertes Haus für seine Schwester Margaret Stonborough-Wittgenstein und kehrte 1929 nach Cambridge zurück, um sich wieder mit philosophischen Fragen zu beschäftigen.
Da er außer dem berühmten „Tractatus“ zu Lebzeiten nichts publizierte, ist es sein rund 20.000 Seiten umfassender philosophischer Nachlass, der sein Gesamtwerk auf beeindruckende Weise dokumentiert. Die Österreichische Nationalbibliothek besitzt einen wichtigen Teil dieses Nachlasses, darunter die Urfassung der „Philosophischen Untersuchungen“ und zwei Originaltyposkripte des „Tractatus“. Dieser philosophische Nachlass wurde 2017 in die Weltdokumentenerbe-Liste der UNESCO aufgenommen, ausgewählte Werke daraus sind in der Ausstellung erstmals öffentlich zu sehen. Zudem geben umfangreiche Fotoalben einen tiefen Einblick in die legendäre Industriellenfamilie der Wittgensteins; darin etwa das Foto des dreijährigen Ludwig auf dem Schaukelpferd, ein Foto seiner Schwester Margarethe als Japanerin verkleidet (sie nannte sich erst nach ihrer Hochzeit mit dem New Yorker Fabrikanten Jerome Stonborough Margaret) oder eine Aufnahme, die Ludwig 1909 mit seinem Bruder Paul beim Studium von Noten zeigt: Der Pianist Paul Wittgenstein, der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte, wurde in der Zwischenkriegszeit zu einem gefeierten Musiker, der u. a. bei Maurice Ravel, Sergej Prokofjew und Richard Strauss Klavierwerke für die linke Hand in Auftrag gab.
Berta ZuckerkandlBerta Zuckerkandl (1864–1945) stand mit ihren berühmten Salons im Zentrum eines künstlerischen und gesellschaftlichen Netzwerkes, das weit über das Wien um 1900 hinausreichte. Sie war außerdem eine selbstbewusste Publizistin, die mit Verve, Streitlust und Pathos für eine neue Kunst eintrat, nicht zuletzt für das Werk Gustav Klimts, mit dem sie eng befreundet war. Die Ausstellung zeigt auch mehrere Originalzeichnungen Klimts, eine Leihgabe der Erbengemeinschaft nach Gerta Loew, die 1902 selbst von Klimt gemalt worden ist.
Die Tochter eines der einflussreichsten Journalisten der Habsburger Monarchie am Ende des 19. Jahrhunderts wuchs in einem liberalen, jüdisch-intellektuellen Milieu auf. Moriz Szeps – in der Ausstellung etwa durch eine Karikatur in der Satire-Zeitschrift „Die Bombe“ vertreten – engagierte sich für eine Intensivierung der kulturellen und politischen Beziehungen zwischen Österreich und Frankreich, was auch für Tochter Berta zur lebenslangen Mission wurde. Nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie 1918 setzte sie mehr denn je auf die Strahlkraft der „Wiener Moderne“ – diese sollte weiter und tiefer reichen als die politische Wirklichkeit „Deutsch-Österreichs“. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich floh Berta Zuckerkandl 1938 nach Paris. Im letzten Moment gelang ihr die Flucht nach Nordafrika; nach ihrer Rückkehr starb sie 1945 in Paris.
Die Überlieferung ihres faszinierenden Nachlasses verdankt sich auch ihrem Enkel Emile (1922–2013), den eine innige Beziehung mit seiner Großmutter verband. Bereits als Neunjähriger sammelte er Beiträge der Salongäste für die von ihm angelegten Autographenalben. Zusammen mit seinen eigenen akribisch geführten Tagebüchern und dem Nachlass bilden diese Materialien einen einzigartigen Bestand, den die Österreichische Nationalbibliothek ab 2012 in mehreren Teilen erwarb. Aus diesem umfangreichen Nachlass zeigt die Ausstellung neben bislang unbekannten Fotografien und Lebensdokumenten zahlreiche Briefe und Postkarten u. a. von Alma Mahler-Werfel, Auguste Rodin, Maurice Ravel, Arthur Schnitzler und Stefan Zweig.
22. März 2018 bis 17. Februar 2019 im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek (Grillparzerhaus, Johannesgasse 6, 1010 Wien).
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