Am 4. Juli 1776, dem Tag, an dem die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Unabhängigkeit erklärten, war Rumford 23 Jahre alt. Als ein bereits ranghoher Offizier hatte er die vorausgegangenen und anhaltenden Auseinandersetzungen des Unabhängigkeitskriegs unmittelbar mitverfolgt. Rumford stand aber nicht in den Reihen der Rebellen, sondern im Dienst König Georgs III. von England. Er war ein loyaler Verfechter der britischen Krone, für die er sich durch die feindlichen Linien laviert und seine amerikanischen Landsleute ausspioniert hatte. So ist nicht nur die zwiespältige Haltung zu ver- stehen, in der man ihm im Herkunftsland bis heute als einem berühmt gewordenen Wissenschaftler, im Grunde aber auch als einem Verräter begegnet. Darüber hinaus lernt man Rumford von Anfang an auch als einen Vertreter des alten Staatensystems kennen, für dessen Machterhalt er eintrat und auf dem er seine beeindruckende Karriere in Europa schließlich aufbauen konnte.
Der als Graf Rumford bekannt gewordene Benjamin Thompson wird am 26. März 1753 in dem Dorf Woburn als Sohn eines Farmers geboren, rund zehn Meilen nordöstlich von Boston in der damals britischen Kolonie Massachusetts. Rumford erhält eine nur dürftige Schulbildung, die er durch eigene Studien aufzubessern weiß. Die dafür erforderliche Neugier ist als einer seiner wesentlichen Charak- terzüge ebenso auffallend, wie bei der Würdigung seiner späteren naturwissenschaftlichen Leistun- gen daran zu erinnern ist, daß sie das Lebenswerk eines Autodidakten sind. Auf exemplarische Wei- se verkörpert Rumford das Bild eines amerikanischen selfmade man.
Rumford muss New England aufgrund seiner Unterstützung er Briten verlassen und flieht nach London, wo er am Hofe König Georgs III. empfangen wird. Noch ein letztes Mal reist er als Offizier eines Dragoner-Regiments zurück in die Kolonien um gegen seine Landsleute zu kämpfen, doch da ist der Krieg letztlich bereits verloren. Thompson sieht sich als Mann des Militärs und so kann ihm England mit seinen leeren Staatskassen keine anspruchsvolle Betätigung bieten. Er beschließt sein Glück bei den Habsburgern in Wien zu suchen, die nach dem Bayerischen Erbfolgekrieg auf einen Konflikt mit dem Osmanischen Reich zusteuern. Auf dem Weg dorthin führt ihn eine Verkettung von Umständen nach München an den Hof des kurpfalz-bayerischen Kurfürsten Karl Theodor. Hier wird er die nächsten vierzehn Jahre bleiben und seinem unwahrscheinlichen Lebenslauf die produktivsten Kapitel anhängen.
Karl Theodor ist angetan von dem weltgewandten, charismatischen und energischen jungen Mann. Durch den Wittelsbacher Erbvertrag war Karl Theodor genötigt, die Kurpfalz und Bayern zu vereinigen und Residenz in München zu beziehen, welches ihm, gelinde gesagt, provinziell erscheint.Während er an seinem Mannheimer Hof eine kostbare Bibliothek eingerichtet hatte, während Mozart für ihn musiziert, er mit Voltaire einen engen Kontakt pflegt und Schiller „Die Räuber“ uraufführte, fühlte er sich fremd in Bayern. Karl Theodor ist hochgebildet und verfolgt die Ideen der Aufklärung, rückt aber keinesfalls vom Prinzip absolutistischer Herrschaft ab. Er sieht sich als Stifter der Künste, militärische Angelegenheiten sind ihm lästig. Sein Hofstaat formt innerhalb Münchens eine Stadt in der Stadt. Und in diese nimmt er Thompson auf.
Bayern befindet sich in einer kritischen Situation. Die Habsburger hegen nach wie vor Besitz- ansprüche, welche Preußen auf keinen Fall zulassen möchte. Der Habsburger Joseph II. bietet Karl Theodor einen Tausch Bayerns gegen Teile des heutigen Belgiens an, doch dieser lehnt ab.
Da sich Karl Theodor gegen einen solchen Handel entscheidet, sieht er sich mit einem grundlegenden Problem konfrontiert: er besitzt ein großes schlecht entwickeltes Land und verfügt weder über eine entsprechende Anzahl an Soldaten um es verteidigen zu können, noch genügen die Kräfte zur angemessenen Bewirtschaftung. Es gibt so gut wie keine Industrie in Bayern und so bleibt einzig die Agrarwirtschaft um die Menschen zu versorgen. Die Armut ist entsprechend hoch, etwa ein Drittel der Menschen lebt vom Bettel.
Benjamin Thompson erkennt die Verkettung der Probleme und schlägt eine umfassende Armeereform vor. Zwischen 1788-1796 erarbeitet Thompson sukzessive ein Reformprogramm, welches all seine Innovationen für Bayern beinhaltet und ihn zum Reichsgrafen von Rumford aufsteigen lässt.
Die Ausstellung stellt diese Reformen in den Mittelpunkt. Im Folgenden sollen drei Aspekte herausgegriffen werden, wobei in der Ausstellung selbst eine weitaus größere Zahl an Themen dargestellt wird. Anhand der ausgewählten Bereiche soll im Besonderen gezeigt werden, wie hochaktuell die Fragestellungen für die Gegenwart sind, auf welche Rumford vor über 200 Jahren Antworten zu geben versuchte. Seine Themen sind Militär und Zivilgesellschaft, Armut und Arbeitslosigkeit, sowie Nutzung, Gestaltung und Teilhabe des urbanen Raums.
Rumford beginnt seine Reform bei den Soldaten selbst. Diese zählen zum untersten Stand der Gesellschaft. Ihnen ist das Heiraten verwehrt und die Arbeitslosigkeit garantiert sobald sie für das Militär nicht mehr einsetzbar sind. Rumford möchte aus ihnen nutzvolle und sich selbst versorgende Mitglieder der Gesellschaft machen. Er lässt Militärgärten einrichten, in denen die Soldaten zu Farmern ausgebildet werden sollen. Er gründet Militärakademien, die allen Gesellschaftsschichten bei entsprechender Begabung offen stehen. Die Behauptung, dass es sich dabei um erste Gedanken hin zum „Bürger in Uniform“ handelt, scheinen nicht gänzlich von der Hand zu weisen.
Aus dem ersten dieser Militärgärten entsteht der Englische Garten. Ursprünglich war die Hirschau an der Isar – wenn nicht von dieser überschwemmt – kurfürstlicher Jagdgrund. Nun sollen Soldaten dort in kleinen Parzellen das Landwirtschaften lernen. Doch Rumford erweitert bald den Plan, vergrößert die Fläche, lässt die Auen aufwendig befestigen und schlägt dem Kurfürsten die Öffnung des Theodorparks für alle Münchner vor. Die Anlage ist nach Rumfords Vorstellungen im englischem Stile entworfen und beherbergt eine Modellfarm, die Soldatengärten, eine Baumzucht, mehrere Brücken, das unter seiner Ägide gegründete veterinärmedizinische Institut. Und einen Chinesischen Turm.
Die Pagode im chinesischen Stil war Rumford aus Kew Gardens bei London bekannt. Allerdings geht es ihm bei der Münchner Version weniger um schlichten Exotimus. Während Chinoiserien an vielen europäischen Höfen en vogue sind, bemüht Rumford die Vorbildfunktion des Kaiserpaares. Sie sollen Sinnbilder für die gute, gesunde, kenntnisreiche und vernünftige Herrschaft stiften. Das unendlich große chinesische Reich, so die Idee, konnte nur vom absolut besten Herrscher geführt werden.
Während die Münchner zum ersten Mal durch ihren Englischen Garten flanieren, wird in Paris die Bastille gestürmt. Durch den Englischen Garten lernen die Münchner also nicht die Freiheit sondern die Freizeit kennen. Die Promenade und das Lustwandeln durch Natur, die nun nicht mehr nur zweckgebunden sondern auch durch ihre Schönheit Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist zuvor unbekannt. Der Blick vom Chinesischen Turm zeigt: die Stadt ist nur ein Element in derLandschaft.
Um dem Bettel Einhalt zu gebieten, der das ganze Land lähmt und in den Städten geradezu kata- strophale Ausmaße annimmt, gründet Rumford das militärische Arbeitshaus in der Münchner Vor- stadt Au. Das Almosensystem katholischer Prägung ist zu diesem Zeitpunkt überfordert, es hun- gern doch immer noch viel zu viele. Mit der Aufklärung ändert sich die Rezeption von Armut, die nun weniger als gottgegeben akzeptiert wird. Rumford möchte nicht nur Hunger stillen, er versucht sich in Arbeitsmarktpolitik. Sein Ziel ist es, den Menschen – den Kindern im Besonderen – den Nutzen und Zweck von Arbeit beizubringen. Im klinisch gereinigten Arbeitshaus finden sich vor al- lem Webstühle aber auch Leder oder Knopfwerkstätten. Dort werden im Auftrag der Bayerischen Regimenter Uniformen hergestellt, designt von Rumford selbst. Die Kinder werden langsam an die Arbeiten herangeführt und bekommen außerdem Schulunterricht. Für ihre Arbeit erhalten die Ar- men Lohn und warme Mahlzeiten.
Mehr als tausend Menschen müssen täglich im Arbeitshaus versorgt werden. Dafür entwirft Rum- ford neuartige Energiesparöfen und erfasst als einer der ersten den Energiegehalt von Lebensmit- teln. Während er bei der Herstellung der Speisen den Einsatz von Energie, also vor allem von Feu- erholz, minimieren möchte, sucht er bei den Speisenden die gewonnene Kraft zu maximieren. So erfindet er einen bahnbrechend neuen Ofen und die schnell über die Landesgrenzen hinweg be- kannte Rumfordsuppe. Die Kartoffelknolle, aufgrund ihrer giftigen Wirkung beim Rohverzehr in Bayern gefürchtet, ist wich- tiger Bestandteil des Rezeptes und wird nicht zuletzt durch den Einsatz Rumfords rehabilitiert.
Den Höhepunkt seiner Macht erlangt Rumford im Jahr 1796. Die französischen und die Habsbur- ger Truppen sind in Bayern eingefallen und finden sich gleichzeitig vor den Toren Münchens ein. Vom Gasteig aus feuern Kanonen, der Rote Turm geht in Flammen auf. Kurfürst Karl Theodor hat Bayern vorzeitig verlassen und Rumford das Oberkommando übergeben. Durch eine diplomati- sche List bewegt er schließlich beide Armeen zum Abzug. München bleibt unversehrt.
Und dies, obwohl Rumford in einem weiteren Großprojekt die Entfestigung der Stadtmauern veranlasst hatte und den Karlsplatz anlegen ließ. Er erkannte früh, dass die Mauern ihre Schutzfunktion verloren hatten. Außerdem sie engten die Stadt in ihrem Wachstum ein. Mit der Schleifung der Gemäuer legt er den Grundstein für den heutigen inneren Ring. Es sagt gleichsam einiges über das Verhältnis der Münchner zu ihrem kurpfälzischen Regenten aus, dass der Karlsplatz als Stachus bezeichnet wird – der Name eines Wirtshauses.
Um die französischen und österreichischen Truppen zum Rückzug aus Bayern zu bewegen, müssen hohe Summen gezahlt werden. Aufgrund der Kosten werden in den kommenden Jahren viele der rumfordischen Reformen zurückgedreht oder eingestellt. Das Armeninstitut schließt, da die Regimenter ihre Uniformen nicht mehr zahlen können.
Rumford entwickelt derweil nicht nur neue Soziale Ideen, sondern treibt seine wissenschaftlichen Forschungen voran. Beim bohren von Kanonenrohren entdeckt er, dass durch Bewegung Wärme entsteht und wird damit zu einem der Begründer der Wärmelehre.
Noch vor dem Tod Karl Theodors 1799 entscheidet sich Rumford zu einer Rückkehr nach London, wird dort allerdings nicht wie geplant Botschafter der Wittelsbacher sondern gründet mit anderen die Royal Institution, eine wissenschaftliche Forschungs- und Vermittlungseinrichtung. Ziel ist die Publikation und Verbreitung fortschrittlicher Ideen zum Wohle der Menschen. Stetig reist Rumford außerdem durch Europa, richtet dabei andernorts Suppenanstalten ein und kommt immer wieder nach München. Auf einer der Reise lernt er Madame Lavoisier kennen, die Witwe des großen Chemikers. 1804 heiraten sie in Paris, die Ehe hält aber nur kurze Zeit. Rumford zieht in der Folge alleine nach Auteuil, damals ein Vorort von Paris. Dort arbeitet er ungebremst in diversen wissenschaftlichen Feldern und stirbt schließlich im Jahre 1814. Er liegt auf dem Friedhof von Auteuil begraben.
Durch die kaum überschaubare Zahl der Betätigungsfelder Rumfords erscheint ein schneller Überblick zu seinem Wirken anmaßend. Schließlich lässt sich seine Beschäftigung mit offenbar höchst disparaten Dingen wie Schießpulver, Uniformen, Epauletten, Marinesignalcodes, Kartoffeln, Petroleumlampen, Ernährungsphysiologie, Armut, Arbeitslosigkeit, Thermodynamik, Agronomie, Stadtplanung, Einbauküchen, Kaffeekannen, Geheimtinten, Pferden, Seidenraupen, Kalkbrennern, Kaminen, Landschaftsgärten, Viehseuchen und Luftverschmutzung kaum zusammenführen. Bei längerer Betrachtung zeigt sich aber, in welch starker Verzahnung die Themen ineinandergreifen und sich zu einer durchaus logischen Abfolge von Problemstellungen reihen lassen. Einerseits wohnt den Gedanken Rumfords stets eine kühl kalkulierende mathematische Art inne. Er rechnet rational, ihn drängt es zu Effektivität. Zugleich ist sein Handeln von ethischen Überzeugung getragen. Es geht ihm um ein besseres Leben für die Menschen oder, wie es Rumford selbst formuliert, darum, "die Glückseligkeit unserer Mitmenschen" zu fördern.
Zur Ausstellung erscheint beim Hirmer Verlag ein umfassender Katalog, der auf rund 380 Seiten und ca. 200 farbigen Abbildungen über die Ausstellung hinaus einen Einblick in Rumfords Leben und Wirken gibt. Bayern 2 ist Medienpartner der Ausstellung „Rumford. Rezepte für ein besseres Bayern“
Öffnungszeiten Dienstag - Sonntag 10.00 - 18.00 Uhr Montags geschlossen
Eintrittspreise Gesamtes Haus Dauerausstellungen Personen ab 18 Jahren 6 € 4 €
Zur Eröffnung der Ausstellung porträtiert das Bayerische Feuilleton auf Bayern 2 in der Sendung von Justina Schreiber „Der Kurfürst und sein Weltverbesserer – Karl Theodor und Sir Benjamin Thompson alias Graf Rumford„ die beiden innovativen Männer, deren Spuren in Bayern heute noch zu finden sind.
Sendung: Samstag, 25. Oktober 2014, 8.05–9.00 Uhr, Bayern 2; Wiederholung: Sonntag, 26.Oktober 2014, 20.05–21.00 Uhr, Bayern 2
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