Reiterer (*1964) arbeitet seit Mitte der 1980er-Jahre vorrangig mit den Medien Zeichnung, Skulptur und Installation. Dabei setzt er sich auch mit den Traditionen und Mustern menschlichen Verhaltens in öffentlichen, institutionellen Räumen auseinander. Mittels skulpturaler Komponenten, die Reiterer in den Raum implantiert, ermöglicht er eine konsequente künstlerische Verschiebung tradierter Parameter, die ungeahnte Eindrücke hinterlassen.
Die Intervention Breath fordert das Publikum auf, sich über soziokulturell erlernte Verhaltensregeln aktiv hinwegzusetzen. In der Mitte des Marmorsaals ist eine Tafel mit dem Text „SCHREIEN SIE JETZT SO LAUT SIE KÖNNEN!“ in mehreren Sprachen platziert. Folgen die Besucher der Handlungsanweisung des Künstlers und schreien in einer Lautstärke, die über einem vordefinierten Pegel liegt, beginnen die Kronleuchter mittels Dimmen der Lichtstärke zu „atmen“. Synchron dazu ist erschöpftes Atmen zu vernehmen. Die gesamte Architektur wird kurzzeitig zu einem riesigen Lebewesen – der Marmorsaal des Belvedere erwacht aus seiner barocken Ruhe.
Die Intervention: Werner Reiterer. Breath wird von einer Publikation begleitet.
Werner Reiterer im Gespräch mit Rüdiger Andorfer (Auszug)
RA: In Breath laufen zwei Entwicklungslinien zusammen. Die eine ist die Handlungsanweisung als Text an der Wand, die andere ist die Skulptur, hier in Form des Lusters.
WR: Beide sind relativ früh entstanden. Der Text „Holen sie tief Luft und tragen sie den Atem in den nächsten Raum “ stammt von 1997 und beschreibt einen skulpturalen Akt, den wir alle täglich vollführen, indem wir einfach Luft holen und dieses Luft und Gasgemisch in einen anderen Raum bringen. […] Die andere Arbeit, die genau das in einer anderen Form skulptural umsetzt und in der wir und unsere Körper nicht die unmittelbaren Adressaten sind, ist Two Spirits. Man sieht einen Kronleuchter auf einem Sockel, der von einem Bewegungsmelder aktiviert wird. Sobald jemand in die Nähe der Skulptur kommt, beginnt sich das Licht des Lusters rauf- und runterzudimmen und wird dabei mit dem Aus- und Einatmen akustisch synchronisiert. Hier wird eine Eigenschaft des Menschen in einen Gegenstand implantiert, der mit dieser Eigenschaft überhaupt nichts zu tun hat. Ein atmender Luster ist in dem Sinn eigentlich kein Luster mehr, er erhält ein sehr surreales Moment. Das sorgt für Erstaunen und Belustigung. Diese Implantierungen mache ich relativ oft: Gegenständen werden humane Eigenschaften eingebläut, wie ich das einmal formuliert habe. Diese Gegenstände werden dadurch fast so etwas wie Lebewesen.
RA: Gerade ein Luster ist ein Objekt, mit dem viele Menschen tagtäglich leben, ohne ihn bewusst wahrzunehmen. In erster Linie ist der Luster herrschaftlich konnotiert.
WR: Er ist natürlich ein hierarchisch konnotiertes Objekt, kulturgeschichtlich und metaphorisch gesagt so etwas wie eine Schatzkiste. In früheren Zeiten hatte man dieses Gut „Licht“ ja nicht immer parat, nur herrschaftliche und adlige Schichten hatten viel davon zur Verfügung, was auch zur Schau gestellt wurde. […] Das finde ich natürlich schon sehr spannend – wenn man das nun auf das Belvedere und den Marmorsaal überträgt, der ja wirklich einer der schönsten Barocksäle ist, und diese Sache auf der gesamten Klaviatur spielt. Da kommt eine gewisse Subversivität zum Tragen, weil man in dieser Installation ja irgendwie auch diese herrschaftliche Struktur anschreit bzw. natürlich auch einen Fauxpas bezüglich der Verhaltensregeln begeht, weil man weltweit gewohnt ist, in Museen zu schweigen oder zumindest leise zu sein. Museen sind kontemplative Orte, man zieht sich sozusagen mit den Kunstwerken zurück, sinniert über die Welt und das Leben. Jetzt gibt es diese offensive Arbeit, die, damit sie offensiv wird und diesen Kern entwickeln kann, den Beitrag des Besuchers einfordert. Ohne den Besucher geht überhaupt nichts. Dann bleibt der klassische, schöne Saal ohne die Zusatzfunktion, dass er sich in ein großes, atmendes Lebewesen verwandelt […]
RA: Du führst hier die institutionelle Kritik mit dem Besucher als sozialer Skulptur zusammen. Das historische Gebäude und sein Raum, der als Museum dient, werden belebt durch das Schreien von Menschen, die auf Basis einer gesellschaftlichen bereinkunft dort überhaupt nicht schreien dürften. Dein Text, der die Besucher, die dort alle Störmomente abseits des Kunstgenusses ausgeblendet haben, zum Schreien auffordert, ist auch das einzig wahrnehmbare Ausstellungsstück deiner Intervention, wenn sie nicht aktiviert ist.
WR: Ich sehe das immer auch als Serviceleistung [lacht]. Kunst ist ja eine Dienstleisterin im idealsten Sinne. Es ist eine Frage der Verantwortung. Wir sind ja alle so erzogen, dass wir die Dinge ausführen, die uns gesagt werden. […] Der entscheidende Punkt ist jedoch: Wenn in einem Museum hochoffiziell die Anweisung gegeben wird: „Schreien sie jetzt so laut sie können“, dann erhalte ich als Besucher eine gewisse Legitimation dafür. Das Museum eröffnet eine Parallelrealität, in der ich sozusagen die Sau rauslassen kann, ohne dass ich Sanktionen befürchten muss. Die einzige Sanktion, die ich zu befürchten habe, kommt von der Arbeit selbst, dann nämlich, wenn ich an meiner eigenen Umsetzung Zweifel habe. Denn schreie ich nur so halb, traue ich mich nur so ein bisschen, wird ziemlich sicher nichts passieren. Die Arbeit ist über einen Lautstärkemesser so eingestellt, dass man mit seinem Schrei für eine gewisse Zeitdauer, eine oder zwei Sekunden, eine bestimmte Mindestdezibelzahl erreichen muss. Liegt man darunter, wird die installative Aktion des Aus- und Einatmens und Dimmens nicht aktiviert. Dann passiert etwas Interessantes: Die ganze Schadenfreude und Peinlichkeit kippt auf diesen einen Besucher, der es versucht hat, zurück. Alle werden sich denken: „Was ist denn mit dem los, ist der verrückt?“ Vor allem für die, die den Text noch nicht gelesen haben, gibt es dann auch keine überprüfbare Reaktion. Man sucht natürlich nach dem Grund für den Schrei. Ein sehr interessanter Aspekt ist, finde ich, dass es möglich ist, durch diese Installation etwas zu machen, was man normalerweise nicht darf. […]
RA: Zum einen wird den Besuchern etwas erlaubt, was sie gemeinhin, zumindest in einer stillschweigenden gesellschaftlichen bereinkunft, nicht dürfen, zum anderen erfordert es auch Mut, sich so zu exponieren und zu versuchen, die Installation auszulösen. Trauen sich das nur spezielle Charaktere?
WR: Ich glaube schon, dass es bestimmte Personen sind, die sich trauen. An diesen Arbeiten ist sehr schön ablesbar, dass es so etwas wie eine Gruppenbildung gibt. Das ist wiederum ein ganz typisches gesellschaftliches Phänomen. In der Gruppe ist man natürlich sicher und kann auch mehr durchbringen. Ganz selten exponiert sich ein Individuum allein. Zusätzlich schafft man in der Gruppe den Pegel der geforderten Lautstärke viel leichter, und man ist natürlich auch weniger verantwortlich – man hat ja nur mitgemacht. Das spiegelt sehr klar die Konstituierung von Gesellschaft wider und wie Individuen sich darin verhalten. Nach mittlerweile sieben oder acht weltweiten Ausstellungsorten kann ich sagen, dass es sich überall ähnlich verhält. Es ist in Amerika nicht anders als in Spanien oder in Frankreich.
BIOGRAFIE Werner Reiterer
1964 geboren in Graz
1984-1988 Studium an der Akademie der bildenden Künste,
Wien (Klasse Grafik, Maximilian Melcher)
Mitglied der Secession, Wien
lebt und arbeitet in Wien
Werner Reiterer
Foto: Angelika Krinzinger
2009 Breath, Belvedere, Wien; Raw Loop, USF Contemporary
Art Museum, Tampa, Florida; Public Art Project, Technisches Museum Wien; Turner in
Linz, Oberösterreichische Landesgalerie, Linz (mit K. H. Klopf)
2008 Raw Loop, The Speed Art Museum, Louisville, Kentucky
2006 Overbeck Gesellschaft, Lübeck; the backside of the brain, Landesmuseum
Niederösterreich, St. Pölten; Public Art Project, 21c Museum, Louisville, Kentucky
2005 Platzebo, Landesgalerie am Oberösterreichischen Landesmuseum, Linz
2003 Die kennen sich! Kennen Sie die?, Kunsthaus Baselland, Muttenz, Basel (mit Eric Hattan)
2001 A one man and two hours show, Kunstverein Hannover (Projektreihe blind date)
1999 Trousers for the Brain, Austrian Cultural Institute, London; Trousers for the Brain, Freud
Museum, London.
1998 Homöopathetisch, Staatliches Museum, Schwerin
1991 Pro und Kontra, Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz
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