Den einst zu Schiff vom Festland Kommenden musste Venedig durch seine bauliche Situation inmitten der Lagune einer Fata Morgana oft ähnlicher erschienen sein als der Festigkeit von wirklich Gebautem. Seine Basis hat La Serenissima – die Allerdurchlauchtigste – im eigenen Spiegelbild, kaum in fester Erde. So war Venedig, das zuweilen schwerelos zu schweben und nur aus Farben und Mustern zu bestehen scheint, in künstlerischen Dingen ein Sonderweg vorbestimmt: Seit etwa 1500 wurden die Farbpalette venezianischer Maler immer toniger und glühender und ihre Bilder atmosphärischer, sodass sich die malerische Weltsicht im Licht oft wie verzaubert darstellt.Zur selben Zeit entstanden in Venedig Meisterwerke der Zeichnung und Druckgraphik von unverwechselbarer Mentalität. In ihnen melden sich die Maler meist noch unmittelbarer zu Wort, als in den repräsentativen Gemälden, werden leisere Töne angeschlagen, die oft zarteren Melodien folgen, klingt nicht selten Privates voll menschlicher Wärme durch und kommt Melancholisch-Tiefsinniges zum Ausdruck, das sich in verschlüsselten Botschaften an eine humanistisch gebildete Klientel wendet: Grund genug, diesen Werken aus dem reichen Bestand der Staatlichen Graphischen Sammlung München in einer Ausstellung Reverenz zu erweisen.
Ausgewählte Stadtpanoramen von Carlevaris und Canaletto, Marieschi und Brustolon stehen am Beginn der Schau und lassen die Zeit der Serenissima ein Stück weit wieder lebendig werden. Werke von Jacopo de’ Barbari und Giulio Campagnola, von Formschneidern des Tizian-Kreises und auswärtigen Kupferstechern wie Cornelis Cort und Agostino Carracci setzen den Parcours fort. Ihre ausgefeilte, mit der Malerei wetteifernde Drucktechnik trug bereits im 16. Jahrhundert zu einem über das Veneto und Italien weit hinaus reichenden Ruhm der venezianischen Kunst bei. Im 18. Jahrhundert griffen Meister wie Canaletto und Tiepolo nicht nur zu Pinsel, Feder und Stift, sondern nahmen die Radiernadel selbst zur Hand. Es entstanden Arbeiten von berührender Schönheit, Poesie und Geistestiefe, in denen sich das OEuvre der Meister im funkelnden Esprit ihres Ambientes so recht erst vollendet. Phantasieveduten und Tiepolos berühmte Capricci und Scherzi sowie Giovanni Davids hinreißende Serie Divers Portraits gewähren Einblick in die Seele von La Serenissima.
Der dritte Teil der Ausstellung feiert die venezianische Zeichenkunst. Gentile und Giovanni Bellini, Lorenzo Lotto und Jacopo Palma il Giovane nutzten sie nicht nur zur Bildvorbereitung, sondern auch zur Erkundung neuer Ausdrucksmöglichkeiten. Neben hochkarätigen Werken von Tizian, Tintoretto und Veronese bildet die einzige aus El Grecos italienischer Frühzeit bekannte Zeichnung einen weiteren Höhepunkt. Für das 18. Jahrhundert setzen Blätter von Amigoni und Tiepolo, Antonio Guardi und Francesco Fontebasso Glanzlichter – darunter auch wahre Virtuosenstücke, die sich auf Meister des 16. Jahrhunderts beziehen, deren Bildfindungen in neues Licht setzen und die für Venedigs künstlerische Handschrift so charakteristischen Kontinuitäten auf packende Weise widerspiegeln. Insgesamt breitet die Ausstellung die exquisiten Bestände der Graphischen Sammlung an Werken venezianischer Kunst in eindrucksvoller Fülle vor ihren Besuchern aus.
Zur Ausstellung erscheint das Katalogbuch VENEDIG. La Serenissima – Zeichnung und Druckgraphik aus vier Jahrhunderten, herausgegeben von Kurt Zeitler, mit Beiträgen von Maria Aresin und Ilka Mestemacher. Das Katalogbuch erscheint im Deutschen Kunstverlag, umfasst 352 Seiten und 216 Abbildungen. Die Veröffentlichung des Katalogs wurde durch die Ernst von Siemens Kunststiftung ermöglicht.