Mit der Ausstellung ars viva 2021 würdigt der Kunstverein Hannover zum dritten Mal junge Preisträger*innen des renommierten, vom Kulturkreis der deutschen Wirtschaft im BDI e.V.seit 1953 vergebenen Kunstpreises. Dieser ist mit 5.000 Euro dotiert, zwei Ausstellungen, einer Residency auf Fogo Island (Kanada) sowie einem Katalog verbunden.Die Ausstellung der drei Preisträger*innen ist die erste große Präsentation des ars viva-Preises für Bildende Kunst, der bereits 2020 an Rob Crosse, Richard Sides und Sung Tieu verliehen wurde. Für die Räume des Kunstvereins konnten die drei in Berlin lebenden Künstler*innen neue Arbeiten konzipieren. Ein inhaltliches Bindeglied ist, dass Crosse, Sides und Tieu innerhalb ihrer Arbeiten auf höchst individuelle Weise verborgenen sozialen Mustern, gesellschaftlichen Bruchlinien und zwischenmenschlichen Verhaltensweisen nachspüren und diese medial komplett unterschiedlich analysieren.
Der im britischen Hertfordshire 1985 geborene Rob Crosse konzentriert sich in seinem fotografischen und filmischen Werk auf Männer, die er in verschiedenen Lebensphasen zwischen Alltag und Berufsleben, Privatheit und Öffentlichkeit begleitet. Aus seinem tiefergehenden Interesse an Pflege und am zwischenmenschlichen Kümmern entstehen immer wieder Arbeiten, die ein liebevolles Miteinander ohne Berührungsängste von Menschen in unterschiedlichen Kontexten oder deren zugewandten Umgang mit Dingen festhalten. In seinen neuen Filmen widmet sich der Künstler der Welt der KFZ-Werkstatt rund um begehrliche Oldtimer, die sorgsam behandelt werden, sowie einem Gewächshaus und Pflanzen, die durch seltsame Haltekonstruktionen gestützt werden; einige von ihnen werden gleichfalls als fotografische Werke präsentiert. Crosses poetischer Blick auf die Spuren der Vergänglichkeit von Körpern offenbart sich auch in seinem dritten Film, der die Beine eines Mannes bei dessen körperlicher Ertüchtigung fokussiert.
Richard Sides (*1985 in Rotherham, GB) hat für den Kunstverein Hannover eine raumgreifende Installation erarbeitet: die gesamten Wände wurden hierfür mit schwarzen, vertikalen Linien aus der Spraydose versehen und mit diversen Objekten und eigens hierfür hergestellten Malereien bestückt. Zentral begegnen die Besucher*innen einer roboterartigen Figur, die u. a. aus benutztem Karton und Kabeln besteht. Dieser Figur wird eine vom Künstler arrangierte dramatische Musik eingeflößt, die zugleich den Raum vereinnahmt. Das von ihm entwickelte Setting, dem Sides den Titel »Bounce their music across the grass« gegeben hat, orientiert sich an dem Raum sowie den für die Ausstellung gebauten Soundschleusen und schafft letztendlich eine Art irreale Welt, in der eine eigenartige Stimmung herrscht und der Eindruck entsteht, man sei in eine Simulation oder Versuchsanordnung geraten. Das Verwirrspiel mit der Mehrdeutigkeit setzt Sides analog hierzu in seinen Collagen fort und lässt Realität und Repräsentation verschwimmen.
Gespeist aus ihrer eigenen Familiengeschichte zwischen Vietnam und Deutschland lotet Sung Tieu (*1987 in Hai Duong, VN) die Ambivalenz zwischen den Kulturen aus und überführt sie in ihre Installationen. Der Ausstellungsraum wird bei Sung Tieu zum Experimentierfeld ästhetischer Erfahrungen, indem Dokumentarisches und Fiktives verschmelzen.
Für ihre Präsentation im Kunstverein dominieren große, schwere Stahlplatten mit eingravierten astrologischen Bezugnahmen den Raum. Zentral platziert bilden zwei runde Objekte den Ausgangspunkt ihrer Werkgruppe, da sich hierauf zum einen die Geburtsparameter als auch die Sternenkonstellation ihrer Migration im Jahr 1992 befinden, deren Bedeutung die Künstlerin von der Astrologin Zoe Mercury interpretieren ließ. Die weiteren sechzehn, wie Türen anmutenden Wandobjekte im langen Oberlichtsaal bezeichnen die inneren Stimmen von verschiedenen Charakterzügen und deren mentalen Zuständen, die ausgehend von der jeweiligen astrologischen Konstellation verschiedene Möglichkeitsfelder eröffnen. Insgesamt entsteht ein eigener Kosmos, der wie in vielen Werken Sung Tieus immer wieder von ihrer eigenen Biografie ausgehend beeindruckende Räume eröffnet; inhaltlich thematisieren sie das Potenzial von Manipulations- und Deutungsformen von Geschichte und Lebensgeschichten.
Zur Ausstellung findet ein umfangreiches Rahmenprogramm (s. u.) statt. Zudem präsentiert der Kunstverein Hannover Jahresgaben im Advent-Shop.
Biografien Rob Crosse, 1985 in Hertfordshire in England geboren, studierte Fotografie an der Arts University Bournemouth in England. Es folgte ein Studium der Bildenden Kunst an der Slade School of Fine Art in London. 2016 wurde Crosse mit »Grants for Arts« des Arts Council England ausgezeichnet. 2019 nahm er am Berlin Programme for Artists sowie an einem Auslandsaufenthalt im Rahmen der Videoetage / Eaton in Hongkong teil. 2021 ist er Stipendiat des Residency Programms des Art Center Rupert in Vilnius.
Richard Sides, geboren 1985 in Rotherham in England, studierte an der Sheffield Hallam University sowie Bildhauerei an der Royal Academy of Arts in London, England. Zu sehen waren seine Arbeiten 2021 in der Galerie Schiefe Zähne, Berlin, 2020 im KW Institute for Contemporary Art in Berlin sowie 2019 in einer Einzelausstellung im Kunstverein Braunschweig. Seine Arbeiten wurden in verschiedenen Gruppenausstellungen präsentiert, darunter 2021 im Fluentum, Berlin, 2019 in der Stadtgalerie Bern und 2018 am Swiss Institute in New York. 2017 nahm er an einer Gruppenausstellung im Ludlow 38 in New York teil. Unter dem Label »Bus« veröffentlicht Sides seit 2010 auf seiner Website kontinuierlich selbst arrangierte Musik, Texte und Kunstprojekte.
Sung Tieu wurde 1987 in Hai Duong in Vietnam geboren. Sie studierte Kunst an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg und am Goldsmiths College in London. Sie absolvierte ein Postgraduiertenprogramm an der Royal Academy of Arts in London. Ausgezeichnet wurde sie 2019 u. a. von der Stiftung Kunstfonds; 2018 mit dem Galileo Digital Art Price der Royal Academy of Arts sowie mit dem Londoner Almacantar Studio Award; 2019 erhielt sie den Katalogförderpreis für junge Künstler der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach- Stiftung. Sie ist Stipendiatin der Stiftung Kunstfonds und des Kunstmuseum Bonn. 2021 erhielt sie den Frieze Artist Award und war nominiert für den Preis der Nationalgalerie. 2021 zeigt sie Einzelausstellungen in der GfZK, Leipzig, sowie im Kunstmuseum Bonn. 2020 waren ihre Arbeiten bei Nottingham Contemporary, Nottingham, England, sowie im Haus der Kunst in München zu sehen.