Die heurige Ausstellung im Theseustempel ist ein immersives Environment der Künstlerin Susanna Fritscher (geboren 1960, Österreich). Diese vom Kunsthistorischen Museum in Auftrag gegebene und eigens für diese einzigartige Architektur kreierte Arbeit besteht aus einem Parcours aus tausenden durchscheinenden Silikonfäden, die sich vom Boden bis an die Decke erstrecken.Die zwischen bemalten, die geometrischen Muster des neoklassizistischen Interieurs des Tempels widerspiegelnden Stahlstrukturen gespannte Installation scheint ständig in Bewegung zu sein. Eine sanft vibrierende Schwingung, die vom Luftstrom angeregt und durch das einfallende Tageslicht akzentuiert wird, scheint ihr einen eigenen Atem zu verleihen. Gleich beim Betreten des Werks verändert sich unsere Wahrnehmung des Raums, wechselt ständig während wir ihn durchschreiten und schärft das Bewusstsein für unsere eigene physische Präsenz.
„Die von mir verwendeten Materialien – Folien, Schleier oder Fäden – sind so volatil, dass sie mit dem Luftvolumen, das sie einnehmen, eins zu sein scheinen“, erklärt die Künstlerin. „In dem Spiel, das sie im und mit dem Raum aufbauen, kippt die Materialität und kehrt sich um: Die Luft hat nun eine Textur, einen Glanz, eine Qualität; wir nehmen ihren Fluss, ihre Bewegung wahr. Sie erwirbt eine fühlbare, modulierbare Realität, eine Realität, die fast sichtbar oder hörbar ist und die als Schwingung, Oszillation, Welle, Frequenz beschrieben werden kann.“
Die Wirkung von Fritschers Installation ist subtil, verhalten und kontemplativ. Das Werk reagiert auf die Intimität des Gebäudes, das milchige Licht und die Fragilität seiner eigenen Materialität, indem es Außen- und Innenwelt ineinander faltet. Es bietet keine Erzählung an, sondern bevorzugt eine offene Beziehung zu den Besucher*innen, deren Präsenz und Bewegung dem Werk seine Bedeutung geben. Es macht, was alle großen Kunstwerke tun: Es belohnt uns für unsere geduldige Auseinandersetzung mit ihm. Die vom Spätfrühling bis in den Sommer und Frühherbst ausgestellte Installation wird sich im Wandel der Jahreszeiten und je nach wechselndem Stand der Sonne verändern, wenn die Tage zunächst länger und dann wieder kürzer werden.
Susanna Fritscher lebt seit 1983 in Frankreich und arbeitet seit fünfundzwanzig Jahren in einem Atelier in Montreuil, einem Vorort im Osten von Paris. Dieses neue Werk ist das jüngste in einer Reihe verwandter Installationen in großem Maßstab, die die Künstlerin in den letzten Jahren entwarf. Es schließt an Präsentationen im Musée d’arts de Nantes (2017), dem Louvre Abu Dhabi (2019–2021) und dem Centre Pompidou-Metz (2020) an. Einige dieser Projekte, einschließlich ihrer Teilnahme an der 14. Biennale von Lyon 2017, beinhalteten zusätzlich Klang- und Bewegungselemente.
Die Ausstellung ist die erste institutionelle Präsentation Susanna Fritschers in Österreich. Sie wurde von Jasper Sharp kuratiert und von den Contemporary Patrons des Kunsthistorischen Museums großzügig unterstützt.
Zeitgenössische Kunst im TheseustempelDer klassizistische Theseustempel wurde 1823 von Peter von Nobile als neues Domizil für ein einziges, damals zeitgenössisches Werk – Canovas Theseusgruppe – geschaffen. Fast siebzig Jahre lang war diese bedeutende Skulptur dort allein ausgestellt, bis sie 1891 in das neu erbaute Kunsthistorische Museum übersiedelte, wo sie sich noch heute befindet. Über ein Jahrhundert später erfüllt der Theseustempel nun wieder seinen ursprünglichen Verwendungszweck: Seit 2012 zeigt das Kunsthistorische Museum dort jedes Jahr jeweils ein einziges bedeutendes Werk der zeitgenössischen Kunst.
KünstlerInnen, die bisher im Theseustempel ausgestellt haben, sind Ugo Rondinone (2012), Kris Martin (2012), Richard Wright (2013), Edmund de Waal (2014), Susan Philipsz (2015), Ron Mueck (2016), Kathleen Ryan (2017), Felix Gonzalez-Torres (2018) und Maurizio Cattelan (2019).