Mit 220 Kunstwerken aus 95 Museen und Sammlungen weltweit, werden die wechselvolle handwerkliche und technologische Entwicklung wie auch die kulturelle und gesellschaftliche Tragweite dieses reflektierenden Mediums beleuchtet. Es geht um Spiegel als Artefakte aber auch um Selbsterkenntnis, um Eitelkeit und Weisheit, Schönheit, Mystik und Magie und nicht zuletzt um das Spiegelmedium unserer Zeit – das Selfie.
Auf dem Weg zur Selbsterkenntnis
Neugeborene und Säuglinge interessieren sich schon früh für Gesichter. Das Gesicht der Mutter, der ersten Bezugspersonen, ist für das Kind der «erste Spiegel». Gegenseitig ahmen sie sich nach, spiegeln Gesichtszüge und Emotionen. Kleinkinder interagieren mit ihrem Spiegelbild zuerst wie mit einem «unbekannten» Gegenüber. Erst mit etwa 18 Monaten erkennen sich Kinder selbst im Spiegel. Allmählich entwickelt sich dann auch die Fähigkeit, das eigenen Selbst als Objekt wahrzunehmen und es zu reflektieren. Der griechische Philosoph Sokrates empfahl seinen Schülern, sich im Spiegel anzuschauen, um über Schönheit und Vergänglichkeit nachzudenken und die eigene Seele zu kultivieren.
Die Ausstellung beginnt mit dem antiken Mythos des Narziss'. Die Geschichte des jungen Mannes – der sich in sein Spiegelbild im Wasser verliebt, dann aber erkennt, dass seine Liebe aussichtslos ist und vor Verzweiflung und Auszehrung zu Tode kommt – weckte über Jahrhunderte hinweg die Fantasie kreativer Geister: Der Narziss-Mythos wurde in Literatur, Philosophie, Kunst und Psychologie zu einem Dauerthema, wann immer es um Selbstliebe, Leben und Tod und das Selbstwertgefühl ging.
Selbstporträt und Spiegel
Die Erforschung des eigenen Gesichts im Spiegel und die künstlerische Umsetzung dieses Spiegelbilds in ein Selbstbildnis wurde in Europa seit der Renaissance zu einem eigenen Genre der Kunst. Später erweiterte die Fotografie die Möglichkeiten, sich künstlerisch selbst in Szene zu setzen, sei es durch eine Selbstinszenierung mit Selbstauslöser oder durch Reflexion in einem Spiegel. Die Ausstellung zeigt zum Thema «Selbstporträt» Werke von zwanzig Künstlerinnen und Fotografinnen aus vier Kontinenten – von den 1920er-Jahren bis heute. Die Reihe umfasst Fotografien von Claude Cahun und Florence Henri über Cindy Sherman und Nan Goldin bis zu Amalia Ulman und Zanele Muholi. Die Werke gewähren Einblicke in die Ateliers der Fotografinnen, in ihre künstlerische Praxis, in das Alltagsleben von Familie und Beruf bis hin in die intimen Bereiche des Privatlebens.
Ausschnitte aus Spielfilmen – mit Spiegel-Selbstgesprächen von Männern und auf Spiegel schiessenden Revolverhelden – bilden im Anschluss an die Frauenporträts ein köstliches und zugleich bedenkenswertes Kontrastprogramm.
Und noch etwas: Da die Menschheit heute mit stets griffbereiten Kameras ausgerüstet ist, hat das fotografische Selbstporträt unter dem Namen «Selfie» eine gigantische Dimension und Verbreitung erreicht. Millionenfach finden sich im Netz unter allen möglichen Hashtags auf Armdistanz geschossene Selbstbilder. Sucht man nach «Spiegel und Selfie», so stösst man auf Bilder von Menschen, die am intimsten Ort ihres Privatlebens, dem Badezimmer, sich posieren und diese Bilder unter dem Hashtag #bathroomselfie der Welt offenbaren.
Ein Spaziergang durch die Weltgeschichte des Spiegels
Die vor über 8000 Jahren gefertigten Spiegel aus Obsidian (einem schwarzen vulkanischen Gesteinsglas), die man in neolithischen Gräbern von Catalhöyük im türkischen Anatolien gefunden hat, gelten heute als die ältesten archäologisch dokumentierten Spiegel der Welt. Die geschliffenen Spiegel wurden den Toten mit ins Grab gelegt, zu welchem Zweck, wissen wir nicht. Im präkolumbischen Amerika wurden neben Obsidian vor allem auch andere spiegelnde Mineralien wie Pyrit und Hämatit zu Spiegeln verarbeitet. Mit dem Aufblühen der Bronzekulturen in Mesopotamien, Ägypten und China verbreiteten sich ab dem 3. Jahrtausend v. Chr. blank polierte, meist kreisrunde Metallspiegel. Diese dienten nicht nur kultischen Zwecken und als Grabbeigaben, sondern auch zur kosmetischen Pflege des Gesichts.
Mit einem ägyptischen Bronzespiegel aus dem 19. Jahrhundert v. Chr. den, so die Inschrift, ein Vater für seine Tochter «zur Betrachtung des Gesichts» herstellen liess, beginnt in der Ausstellung die Weltreise durch die Geschichte der Spiegel. Sie führt nach Griechenland, Rom, zu den Etruskern, den Kelten, und danach nach Asien, in den Iran, nach Indien, China und Japan. Einzigartige Exponate aus dem Museo Nacional de Antropología in Mexiko City lassen die numinose Macht von Spiegeln bei den Mayas und Azteken erahnen. Künstlerische Darstellungen von badenden und sich frisierenden Frauen, die sich mit Handspiegeln betrachten, sind als Dekor auf Rückseiten griechischer, römischer und etruskischer Spiegel zu finden. Die Ausstellung zeigt hierzu Meisterwerke aus dem Louvre in Paris und dem Metropolitan Museum in New York.
Die Verarbeitung von Glas zu Spiegeln setzte in Europa, nach ersten Versuchen in römischer Zeit, ab dem 13. Jahrhundert ein. Sie wurden in glasverarbeitenden Werkstätten in Mitteleuropa und Italien produziert. Die den europäischen und auch den weltweiten Markt beherrschenden Glasspiegel von Murano/Venedig und die in den Werkstätten von Saint-Gobain für den französischen Königshof von Versailles produzierten Spiegel bilden den Höhepunkt europäischer Spiegelproduktion des 16. bis 18. Jahrhunderts. Die Herstellung dieser mit Zinn und Quecksilber hinterlegten Spiegel führte bei den Spiegelmachern, die den giftigen Dünsten ausgesetzt waren, meist zu einem frühen Tod. Eine vom deutschen Chemiker Justus Liebig entdeckte Technologie einer giftfreien Beschichtung von Glas, führte ab den 1860er-Jahren zum Siegeszug der mit Silber und heute vor allem mit Aluminium beschichteten Glasspiegel.
Das Finale des Parcours durch die Geschichte der Spiegel bilden Arbeiten von Fernand Léger, Roy Lichtenstein, Monir Farmanfarmaian, Anish Kapoor und Gerhard Richter. Sie alle vereint der Titel Spiegel und sie zeigen exemplarisch die ungebrochene Beliebtheit des Spiegels als Motiv und als Werkstoff in der modernen und zeitgenössischen Kunst.
Symbol der Tugend und der Sünde – Weisheit und Eitelkeit
Die «Weisheit» galt schon im alten Griechenland als eine der Kardinaltugenden. Im Christentum fand sie unter den lateinischen Bezeichnungen «Sapientia» (Weisheit) und «Prudentia» (Klugheit) Eingang in den Kanon der «Sieben Tugenden». In der europäischen Kunst des Mittelalters und der Neuzeit wurden Personifikationen der «Weisheit» oftmals mit einem Handspiegel dargestellt. Denn weise ist, wer sich selbst erkennt und mit kluger Voraussicht den Weg in die Zukunft bedenkt. Das Attribut eines Spiegels kann aber auch auf eine der «Sieben Todsünden», die «Superbia», hinweisen. Denn hochmütig, stolz und eitel ist, wer sich oft selbstverliebt im Spiegel anschaut, weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft denkt und selbstvergessen dahinlebt.
Magie, Schutz und Abwehr
Der Spiegel, der seltsamerweise die Seiten verkehrt, der zerbrechlich ist, detailgetreu reflektiert, aber auch dunkel und geheimnisvoll sein kann, hat die Menschen dazu inspiriert, im Spiegel nicht nur einen harmlosen Reflektor, sondern auch ein wirkungsmächtiges Medium zu sehen, das in das Leben der Menschen eingreift, das ihn berät oder etwas verrät, ihn beschützt, aber auch bedrohen kann. Nichts mag diese magische Seite des Spiegels besser zu illustrieren als ein Blick in die Filmgeschichte. In zahlreichen Genres, d.h. in Fantasy-, Horror- und Vampirfilmen kommen Spiegel zum Einsatz, die die Zukunft oder die Vergangenheit offenbaren, hinter denen der Tod lauert und die Unsichtbares sichtbar und Sichtbares unsichtbar machen.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass Spiegel in der Kunst des Surrealismus, wie dies die Beispiele von Salvador Dalí und Paul Delvaux zeigen, eingesetzt wurden, um Abgründiges, Unverständliches und Verborgenes anzudeuten. Die Schutzfunktion zeigt sich im weltweit ältesten, aus dem 18. Jahrhundert stammende Gewand eines Schamanen aus Sibirien, das mit Messingspiegeln behängt ist, wie auch die mit Spiegeln ausgerüsteten Kraftfiguren aus dem Kongo schliesslich zeigen auf, dass diese «Reflektoren» feindliche Kräfte abwehren und so ihre Träger beschützen können.
Halte deinen Spiegel sauber!
In nahezu allen grossen Religionen, wie dem Hinduismus, Buddhismus, Islam und dem Christentum, finden sich Texte, in denen Spiegel beschrieben werden. Spiegel gelten oft als Metapher für die Seele: Sie muss rein und immer blank geputzt sein, kein Staub darf sich auf sie legen. Ist die Seele ein Spiegel, so kann sich Gott in ihr spiegeln und wirksam werden. Spiegel können, wie in einem Lokalkult im indischen Kerala, gar eine Gottheit verkörpern.
Voyeuristischer Blick in die private Welt von Frauen
Das Thema «Schönheit und Verführung» illustrieren Bilder, Drucke und Fotografien aus Indien und Japan sowie europäische Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts. Es sind dies allesamt Darstellungen von Frauen, die sich schminken, schmücken, baden, auf ihren Geliebten warten und sich dabei im Spiegel betrachten oder von Männern beobachtet werden. Auch wenn bei den europäischen Werken vordergründig beabsichtigt war, die Frauen mit den Spiegeln in einen moralisierenden Kontext zu setzen – sie mussten die Sünde der Eitelkeit, «Vanitas», visualisieren – ist klar, mit welcher Absicht sie geschaffen wurden. Es sind alles von männlichen Künstlern und Fotografen arrangierte Inszenierungen von Frauen, gemacht für die Augen männlicher Betrachter. Die Frauen sind meist leicht gekleidet oder entblösst dargestellt. Die Werke gewähren Einblick in die Frauengemächer – Orte, zu denen Männer normalerweise der Zutritt verwehrt war. Bei manchen Darstellungen sehen wir das Antlitz der dargestellten Frau im Spiegel reflektiert: Sie, die wir zu beobachten glauben, blickt uns an und lässt uns bewusst am Geschehen teilhaben.
Durch den Spiegel in eine Parallelwelt: Through the Looking Glass
Mit der Geschichte von Alice, die in ein Wunderland auf der anderen Seite des Spiegels gelangt, mit einem Hauptwerk von Michelangelo Pistoletto sowie mit einem Filmausschnitt aus Jean Cocteaus Orphée, bei dem – in einer der berühmtesten Szenen der Filmgeschichte – der französische Schauspieler Jean Marais als Orpheus durch einen Spiegel in die Unterwelt eintritt, endet die Ausstellung.
Spiegel im Park – Spiegelpark
Auf dem Vorplatz des Museums entdecken die Besuchenden einen Spiegelpark – einen Pavillon aus farbigen und spiegelnden Gläsern. Die optischen und akustischen Spiegelerlebnisse dienen als «Selfie-Land» für Selbstporträts und Gruppenbilder: «Awesome!» – wie es so schön auf Social Media heisst.Im Teich der Villa Wesendonck schwimmen Spiegellinsen des deutschen Künstlers Adolf Luther und daneben breitet sich auf dem Rasen ein Werk von Silvie Fleury aus mit dem Titel Eternity Now, ein überdimensionierter Rückspiegel eines Autos, in dem sich Park und Villa spiegeln.
Apropos Rückspiegel
Die Spiegel-Ausstellung des Museums Rietberg ist nach «Orakel», «Liebeskunst», «Kosmos», «Mystik» und «Gärten» die neue, kulturvergleichende Ausstellung im Museum Rietberg. Es ist verblüffend, dass das Motiv des Spiegels sich mit all den genannten Ausstellungen in Bezug bringen lässt. Und so ist die Ausstellung für Kurator Albert Lutz, seit 1998 Direktor des Museums, der mit «Spiegel» seinen Abschied nimmt, auch ein «Rückspiegel». Beteiligt an dieser Ausstellung sind auch die Kuratorinnen und Kuratoren des Museums sowie über zwanzig externe Fachleute, die als Co-Kuratorinnen sowie als Autoren des Katalogs mitgewirkt haben.
Mein Spiegel – 12 Kurzfilme
Zwölf Antworten auf die Frage: Was haben Spiegel mit mir zu tun? Eine erweiterte Sicht auf Spiegel zeigen in zwölf Video-Interviews, unter anderem ein Kurator des Zoos Zürich, eine Tänzerin des Balletts des Opernhauses Zürich, ein bekannter Schweizer Fotograf, ein prominenter Zürcher Coiffeur, eine der meistgefolgten Influencerinnen der Schweiz, ein Zauberkünstler und einer Klosterfrau.
Clips aus Spielfilmen
Kino-Kabinette sind Teil der Ausstellung und zeigen Ausschnitte aus Spielfilmen zu folgenden Themen: «Männer im Selbstgespräch», «Revolverhelden», «Magie», «Horror, Vampire und Drakulas» sowie «Melodrama». Ausserdem sind Ausschnitte einiger der berühmtesten Spiegelszenen der Filmgeschichte in Grossprojektion zu sehen: Der Eintritt in die Unterwelt aus Jean Cocteaus Orphée, das grandiose Finale von Orson Welles Lady from Shanghai, die Peepshow-Szene aus Wim Wenders Paris Texas und von Wong Kar-Wai In the Mood for Love.
Feiertage geöffnet:1. August 10−20h25. Dez. 10−17h (öffentliche Führung findet nicht statt)26. Dez. 10−20h1. Jan. 10−17h2. Jan. 10−20h
geschlossen:24. und 31. Dez.
Zusätzlich offen Ostermontag und Pfingstmontag, 10−17h Eintrittspreise Sonderausstellungen CHF 18 / 14 (reduziert)
Sammlung: CHF 14 / 12 (reduziert)
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