Von Pablo Picasso ist die Aussage überliefert, wonach er erst angesichts der afrikanischen Masken im Pariser Musée d’Ethnographie erkannt habe, »um was es in der Malerei wirklich geht«. Die Exponenten der expressionistischen Künstlergruppe »Brücke« schöpften aus den Beständen der Völkerkundemuseen Inspirationen für ihre eigenen Schnitzereien und statteten ihre Ateliers als exotische Refugien aus. Oft übersahen sie jedoch bei ihrer Suche nach einem ekstatischen Naturzustand, dass auch und gerade den Objekten der Stammeskunst strenge Gestaltungsprinzipien zugrunde liegen. Die Dadaisten inszenierten sich mitunter als »wilde« Maskenträger und verhöhnten den Habitus des europäischen Kulturmenschen. Für die Surrealisten waren die Kunst und die Mythen Ozeaniens Medien zur Erkundung verborgener Reiche des Unbewussten. In vielfacher Hinsicht war die Rezeption der Kunst der »Naturvölker« nicht nur ein formaler Gegenentwurf zum bürgerlichen Geschmack, sondern auch Symptomder tiefen Sehnsucht nach einer Lebensreform.Rudolf Leopold war der Ansicht, die Kunst sogenannter »primitiver« Ethnien sei gewissermaßen eine a priori expressionistische. Insofern kam es nicht von ungefähr, dass seine Sammlung über 200 seltene Ahnenfiguren, Tanzmasken, Waffen, Bauplastiken und andere außergewöhnliche Werke der schnitzenden Völker aus Afrika und Ozeanien umfasst. Dieser hochkarätige Bestand wurde in jüngster Zeit von Erwin Melchardt wissenschaftlich erfasst und bearbeitet. Unter dieser Voraussetzung wird nun die Stammeskunst aus der Sammlung Leopold erstmals in ihrer vollen Bandbreite präsentiert. Gleichzeitig tritt sie in einen anregenden Dialog mit den Werken bedeutender Vertreter der Moderne wie Pablo Picasso, André Derain, Amedeo Modigliani, Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde oder Max Ernst.
Als kultursoziologisches Phänomen besonderer Art wird in der Schau die Begeisterung der klassischen Moderne für »primitive« Kunstformen zusätzlich durch Beispiele des postkolonialen Diskurses in der zeitgenössischen Kunst reflektiert und hinterfragt.
Kuratoren: Erwin Melchardt, Ivan Ristić