Das Reuchlinhaus Beitrag von Denkmalpfleger Christoph Timm im Museumsführer des Schmuckmuseums Das Reuchlinhaus gehört zu den Meisterwerken der deutschen Nachkriegsarchitektur. Errichtet 1957 bis 1961 als städtisches Kulturzentrum, präsentiert es sich in der klaren Formensprache des International Style, geprägt durch scharfkantige Kuben, eine Portion Großzügigkeit und eine Prise Understatement. Die Einbettung in das Grün des Stadtgartens verleiht ihm die Aura eines klassischen Landhauses. Vorgeschobene Sockelmauern, verkleidet mit groben Kieseln aus hellem italienischem Carrara-Marmor, umziehen den breit aufgefächerten Komplex, der mit mehreren Flügeln in den Park ausgreift. Einige Stufen führen auf die mediterran bepflanzte Gartenterrasse hinauf, die dem Haupteingang vorgelagert ist.
Empfangsraum und Herzstück ist die quadratische Eingangshalle, ein lichtdurchflutetes Foyer, dessen mega-große Panoramascheiben Ausblicke ins Grüne erlauben. Das Zentrum des oberen Foyers bildet ein Loch, ein kreisrundes Treppenauge, durch das eine freitragende Treppe sich spiralig ins untere Foyer hinabwindet: Eine Treppenspirale als Raumskulptur, die beim Betreten zur Freude aller Besucher überraschende Klänge produziert. Sie tönt unter den Füßen wie ein schwingender Klangkörper, ein Effekt ihrer raffinierten Konstruktion als stählerner Hohlkasten.
Das Foyer ist Ausgangspunkt und wiederkehrender Treffpunkt des Museumsrundgangs. Ausgestreckt in die vier Himmelsrichtungen, der Grundrissfigur eines klösterlichen Kreuzgangs verwandt, sind rings herum würfelähnliche Quaderboxen angedockt, die wahlweise zur Entdeckung einladen. Wechselnde Lichtinszenierungen, Volumina und Materialien erzeugen unterschiedliche, fast meditative Stimmungen. Da ist zunächst der fensterlose Baukörper am Treppenaufgang: Mit seiner Natursteinhaut aus rötlichem Nordschwarzwälder Sandstein, die Platten unregelmäßig geschnitten wie in der zeitgenössischen Gartenarchitektur, spielt er auf seine ursprüngliche Funktion als Heimatmuseums an. Überragt wird er von der Black Box des Schmucks, einem futuristischen Container, dessen metallisch glänzende Außenhaut schachbrettartig mit Rohglas- und Aluminium-Reliefplatten verkleidet ist. Auf der dritten Seite dominiert die lichte Stahl-Glas-Konstruktion der Ausstellungshalle des Kunstvereins, ein gläserner Würfel, dessen minimierte Tragkonstruktion allseitig dem Tageslicht Zutritt gewährt. Ihm steht der großzügig verglaste Betonbau der ehemaligen Stadtbibliothek gegenüber, dessen langgestreckte Fensterfronten einen hohen Saal mit dreiseitig umlaufendem Galeriegeschoss belichten. Seit dem Umbau präsentiert sich dieser Flügel als Teil des erweiterten Schmuckmuseums mit Ausstellungsräumen, Museumsshop und Cafe.
Folgt man der Wendeltreppe hinab ins untere Foyer, gelangt man in die »Galerie zum Hof« und zum Vortragssaal. Auch hier wirkt nichts eng, denn Glaswände, Schieferboden und Kieselmauern schaffen Weite und fließende Übergänge zum anschließenden Gartenhof. Innen- und Außenräume sind perfekt zur optischen Einheit verschmolzen. Der Gartenhof selbst scheint einem klassischen Atrium nachempfunden. Über ihn hinweg streift der Blick hinauf zu den Bäumen des Parks und wieder hinab zu einem Wasserbecken mit Kaskade. Die Quellen der europäischen Kultur aus Antike und Renaissance, hier könnte man sie im Geiste des großen Humanisten Johannes Reuchlin versinnbildlicht sehen.
Eine Arche für die Kultur Wie in einer Arche Noah fanden nach der totalen Kriegszerstörung vom 23. Februar 1945 die kulturellen Institutionen der Stadt mit ihren stark dezimierten Beständen im Reuchlinhaus eine neue Bleibe, darunter Stadtarchiv, Heimatmuseum und der traditionsreiche Kunstgewerbeverein. Mit der Namensgebung des Hauses ehrte Pforzheim seinen berühmtesten Sohn, den Gelehrten, Schriftsteller und Juristen Johannes Reuchlin (1455-1522), Wegbereiter des europäischen Humanismus, der sich selbst aus Anhänglichkeit an seine Vaterstadt den Beinamen »Phorcensis« zulegte.
Im Namen Reuchlins bekannte sich Pforzheim zu einem in die Zukunft gerichteten Programm des kulturellen Wiederaufbaus. Mit der Kombination von Kultur, Schmuck und humanistischem Geist polierte die Goldstadt ihr Image auf und positionierte sich im Wettbewerb der Städte. Der weitere Auf- und Ausbau der Kulturinstitutionen führte freilich dazu, dass bald der Platz knapp wurde und mehrere Nutzer das Reuchlinhaus wieder verließen. So ergab sich die Chance zum Ausbau des Schmuckmuseums. Die Architektur mit ihrem reizvollen Wechsel von Material und Raumbildern, die die ursprüngliche Idee und Konzeption des Kulturzentrums widerspiegelt, wurde beim Umbau des Hauses in konsequenter Weise beibehalten bzw. wiederhergestellt.
»Man wird diesen modernen Gebäudekomplex später sicherlich auch unter die ›Denkmale‹ Pforzheims rechnen«, prophezeite bereits 1963 der Stadtchronist Oskar Trost, »als einen Markstein, der beweist, dass die Generation Pforzheimer, welcher das große Werk des Wiederaufbaus der zerstörten Stadt oblag, neben den rein praktischen Erwägungen auch einen Sinn für ideelle und kulturelle Belange hatte.«
Der Architekt Manfred Lehmbruck (1913-1993), geboren in Paris, aufgewachsen in Zürich und Berlin, war ein Sohn des berühmten Bildhauers Wilhelm Lehmbruck. Seinen Vater verlor er früh als Kind. Ein väterlicher Freund nahm sich seiner an und weckte sein Interesse für die moderne Baukunst: Ludwig Mies van der Rohe, der Direktor des Bauhauses in Berlin, der nach seiner Emigration aus Nazi-Deutschland später zum Star der nordamerikanischen School of Chikago wurde. Ihm setzte Lehmbruck ein Denkmal, denn der Entwurf des Reuchlinhauses spielt deutlich auf Mies’ legendären »Barcelona-Pavillon« an, Deutschlands aufregenden Beitrag zur Weltausstellung von 1929. In den 1930er Jahren assistierte der junge Lehmbruck auf Vermittlung von Mies im Pariser Büro von Auguste Perret, Frankreichs führendem Architekten, wo er das Vorbild für seine spektakuläre Wendeltreppe fand. Mit dem Wettbewerbssieg in Pforzheim (1953) erzielte er seinen architektonischen Durchbruch.
Nach der Verfemung der Kunst der Moderne im »Dritten Reich« trug das Reuchlinhaus mit dazu bei, Deutschland wieder einen Platz in der internationalen Agenda zu sichern. Als Modell und Vorbild für urbane Kulturzentren und neue Ausstellungssysteme rückte es in den Mittelpunkt weltweiten Interesses: 1961 referierte der Architekt auf Einladung der UNESCO in Genf; es folgten mehrere Publikationen. Lehmbruck wurde zum Mitglied des International Council of Museums berufen und reiste in Ost und West. In Deutschland realisierte er noch zwei weitere bemerkenswerte Ausstellungsgebäude: das Wilhelm-Lembruck-Museum in Duisburg (1959-64) und das Federsee-Museum in Bad Buchau (1965-67). Ab 1967 hatte er eine Professur an der renommierten Technischen Universität Braunschweig inne.
Bilder vom All Das Reuchlinhaus ist ein Gesamtkunstwerk, durchgestaltet bis ins letzte Detail. Zu den Leistungen Lehmbrucks gehört auch das Interieur, das raffinierte Design der Treppen, der Möbel und Ausstellungssysteme. Herausragend als Formerfindung sind die von der Decke abgehängten Vitrinen im Schmuckmuseum: leuchtende Körper, die mit ihrem kostbaren Inhalt wie Raumschiffe geheimnisvoll im dunklen Raum des Alls schweben. Irgendwie scheinen sie inspiriert vom Beginn der Raumflug-Ära: 1957 hatte der erste sowjetische Sputnik-Satellit seine Umlaufbahn erreicht, zwei Jahre später funkte eine unbemannte russische Raumsonde erste Bilder von der Rückseite des Mondes zur Erde. Satelliten wurden zur globalen Chiffre des Fortschritts im 20. Jahrhundert. Folgt man diesem Bild, so bestünde die Mission der schwebenden Vitrinen darin, die Botschaft von der einmaligen Schönheit des Schmucks aller Völker und Zeiten über die Enden der Welt hinaus zu tragen.
Die schimmernde Hülle zum Allraum des Schmuckmuseums entwarf Adolf Buchleiter (1929-2000), ein phantasiebegabter Designer der Pforzheimer Kunst+Werkschule. Er ersann das Relief einer Mondlandschaft, erstarrte Krater aus Aluminium auf quadratischen Platten, die im Schachbrettmuster rings um den Kubus montiert sind. Sie lesen sich wie aus dem All gefunkte Nachrichten, übertragene Bildserien. Diese »Filmstreifen« wirkten gegenüber konventioneller »Kunst am Bau« so revolutionär, dass der Gemeinderat beinahe sein Veto eingelegt hätte. Buchleiters architektonische Ornamentik ist ein Vorbote der Popkultur, jener Kunstform, die sich ganz unbefangen den Zeichensystemen der Werbe- und Bildschirmästhetik zuwandte, um neue Wirkungen erzeugen. Zum bekanntesten Vertreter dieser Richtung wurde in den 60er Jahren der amerikanische Künstler Andy Warhol.
Lebensgefühl der 60er Jahre Tradition, klassische Moderne und Pop sind im Reuchlinhaus zu einem Gesamtkunstwerk verbunden, das Vergangenheit und Zukunft, Konzentration und Weite auf unvergessliche Art miteinander verbindet. Als kulturelles Erbe und künstlerischer Ausdruck seiner Zeit steht es inzwischen unter Denkmalschutz.