Riehen/Basel. Der Gemälde-Zyklus trägt einen an unaussprechlichen Schrecken erinnernden Titel: „Birkenau“. Gerhard Richters Werk wurde von vier anonymen Fotografien inspiriert, die 1944 unter lebensbedrohlichen Umständen entstanden und so erschütternd wie umstritten sind. Nach einer erstmaligen Präsentation im Dresdner Albertinum gastiert der abstrakte Malerei-Zyklus „Birkenau“ in der Fondation Beyeler, wo er mit weiteren Werken Gerhard Richters aus der Sammlung des Museums und des Künstlers bis Mitte Januar 2016 zu sehen ist.Als im Dezember 2013 der französische Philosoph und Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman den Maler Gerhard Richter in seinem Atelier in Köln besucht, zeigt er sich nicht nur vom Werk des Künstlers fasziniert, sondern auch vom Prozess der Planung, von der Ungewissheit und den Zweifeln, von den „Bildern im Wartezustand“. Umso mehr, als er in Richters Atelier vier leere Leinwände bereit stehen sieht. Didi-Huberman fotografiert die ordentlich aufgereihten Pinsel, die auf den Einsatz des Künstlers zu warten scheinen. Schliesslich verrät Gerhard Richter seinem Besucher welchem Motiv seine Vorbereitungen gelten. Nach seinem Besuch verfasst Didi-Huberman einen Brief an Gerhard Richter, der Brief wird 2014 im Katalog „Gerhard Richter Bilder/Serien“ zur Ausstellung in der Fondation Beyeler abgedruckt und kündigt einen Gemälde-Zyklus an.
Didi-Huberman schreibt: „Dieses „Etwas“? Es handelt sich um vier grauenvolle Bilder. Ich weiss, dass Sie von ihnen – zumindest von einem oder zweien davon – seit Ihrer Jugend an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden Kenntnis haben. Seit nunmehr ungefähr sechzig Jahren warten diese Bilder am Rande Ihres Blickfelds, irgendwo in Ihrem Kopf, in der Tiefe Ihres Herzens und rufen, vielleicht, nach einer Geste Ihrer Hand“.
Didi-Huberman sind die Bilder bekannt, deren Reproduktionen sich zudem seit Ende der 60er Jahre im Atlas befinden, dem persönlichen Bild-Archiv von Gerhard Richter. In seinem Buch „Images malgré tout“, erschienen 2003 (Dt.: „Bilder trotz allem“, 2007), widmet sich Georges Didi-Huberman ihrem paradoxen Wesen. Es sind enigmatische Bilder, deren Unklarheit der Hast, Angst und Gefahr geschuldet sind und die trotz allem ein entsetzliches Zeugnis sind.
Im August 1944 gelingt es zwei Häftlingen in Auschwitz, Mitgliedern des sogenannten Sonderkommandos, das Grauen der Gaskammern fotografisch festzuhalten. Aufnahmen sind in den Konzentrationslagern strengstens untersagt, der Holocaust soll undokumentiert bleiben. Jene vier Aufnahmen können aus dem Lager geschmuggelt werden: es sind „vier Stücke Film, der Hölle entrissen“, die dem „Unvorstellbaren um jeden Preis eine Form“ geben.
Gerhard Richter malte erst die Fotografien grossformatig ab, um sie anschliessend in Rakel-Technik abstrakt zu übermalen. Nach der ersten Präsentation im Albertinum in Dresden sind die vier Leinwände derzeit in der Fondation Beyeler bis Mitte Januar zu sehen.
Zitate aus:Georges Didi-Huberman, „Bilder trotz allem“; aus der Reihe „Bild und Text“ erschienen im Wilhelm Fink-Verlag, 2007 (Titel der frz. Originalausgabe: „Images malgré tout“, erschienen im Verlag Les Éditions de Minuit, 2003)
Die vier Originalfotos, anonym aufgenommen im August 1944, befinden sich in Oswiecim, im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau.