Das Ziel des Restaurierungsprojektes war sowohl die wissenschaftliche Untersuchung der Maltechnik und der Materialien, die Henri Rousseau einsetzte, als auch eine Erforschung der Restaurierungsgeschichte des Gemäldes. Zusammen mit den kunsthistorischen Recherchen sollten diese Erkenntnisse umfassende Informationen über das Werk liefern und eventuell sogar Datierungsfragen beantworten. Weiterhin wollte man unsensible, vergangene Restaurierungen der Malschicht verbessern, damit das Werk wieder so authentisch wie möglich präsentiert werden kann.
Ablauf der RestaurierungKnapp über ein Jahr dauerte die Restaurierung des Gemäldes. Die Restaurierung hatte eine ästhetische Optimierung als Ziel: Obwohl die Malschicht in einem sehr guten Zustand war, wurde sie, durch verschiedene Schmutzablagerungen und kleine ältere Schäden beeinträchtigt. Aufwändige Vorrecherchen waren unabdingbar um ein geeignetes Restaurierungskonzept zu erstellen. So konnten anhand von frühen historischen Abbildungen des Gemäldes Rückschlüsse über alte Übermalungen gezogen werden. Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigten Ähnlichkeiten in Bezug auf Alter und Zusammensetzung dieser Übermalungen mit der originalen Malschicht von Rousseau. Daher muss davon ausgegangen werden, dass diese vom Künstler selbst stammen können; sie wurden somit trotz der Farbveränderung nicht entfernt.
Weitere Untersuchungen konnten wichtige Fragen zur Malweise Rousseaus klären. Der Künstler zeichnete Partien zuerst in Bleistift vor, dann wurde die Hauptkomposition mit der dunklen Berliner-Blau-Farbe in Öl vorgemalt, bevor er mit dem eigentlichen Malprozess begann. Röntgenaufnahmen zeigen, dass ihm der Kontrast zwischen dem dunklen Dickicht und dem hellen Himmel im Hintergrund äusserst wichtig war, da er diese Aussparungen zum Schluss zwischen Blattwerk und Ästen mit hellblauer Farbe ausmalte.
Besonders spannend war die Untersuchung der Bildoberfläche. Über die Jahre haben sich ein dünner, gräulicher Schmutzfilm sowie lokal weisse, schleierähnliche Verfärbungen auf der Oberfläche abgelagert. Diese zu entfernen war ein Hauptziel der Restaurierung, doch Tests mit gängigen Reinigungsmethoden auf der Basis von Wasser oder Lösemitteln zeigten, dass die Malschicht dabei angegriffen wurde. Der Grund konnte durch chemische Analysen der Farbe gefunden werden: Rousseau arbeitete nicht in reiner Ölfarbe, sondern mischte dieser proteinhaltige Komponenten (Tempera) bei, welche auch nach über 100 Jahren noch löslich bleiben können. Diese neue Erkenntnis über Rousseaus Maltechnik wird auch nach Abschluss der Restaurierung weiter vertieft. Schliesslich fanden die Restauratoren eine Alternative, eine trockene Reinigungsmethode mit synthetischen Latexschwämmchen, die sie vorsichtig über die Bildoberfläche strichen. Der dabei entstehende Abrieb des Schwammes bindet den oberflächlichen Schmutz. Zu guter Letzt wurden noch winzige Ausbrüche in der Malschicht korrigiert. Obwohl für den Besucher kaum sichtbar, stören diese den Gesamteindruck. Sie wurden zuerst ausgekittet und dann zurückhaltend retuschiert, um den gealterten Zustand des Kunstwerkes zu entsprechen und die Originalität zu bewahren.
Nach der Restaurierung zeigt sich das Gemälde wieder in seiner ursprünglichen Farbkraft und Tiefe. Der Farbauftrag des Künstlers ist wieder in seinen feinen Nuancen erkennbar.
Le lion, ayant faim, se jette sur l‘antilopeDer hungrige Löwe wirft sich auf die Antilope, zerfleischt sie; der Panther wartet beklommen auf den Augenblick, da auch er seinen Teil abbekommt. Die Raubvögel haben ein Stück Fleisch ausgehackt; das arme Tier vergiesst eine Träne! Sonnenuntergang. Vollständiger Bildtitel im Katalog des Herbstsalons, Paris, 1905
Das grossformatige Dschungelbild Le lion, ayant faim nimmt in Rousseaus Werk eine ganz besondere Stellung ein. Es ist sein erstes Gemälde, das eine Jury passierte: 1905 erhielt es im prestigeträchtigen Herbstsalon einen Ehrenplatz. Gleich im Nebensaal hatten die Fauves – Henri Matisse, André Derain, Maurice de Vlaminck – ihren epochenmachenden Auftritt. Le lion, ayant faim ist auch das erste Werk Rousseaus, das in einer Zeitschrift abgebildet wurde und in den Kunsthandel gelangte. Der illustre Kunsthändler Ambroise Vollard erwirbt es im Jahr 1906 für 200 Francs. Ein Jahr darauf kauft Robert Delaunays Mutter das Bild La charmeuse de serpents. Vielleicht ist es auch diesem doppelten Verkaufserfolg zu verdanken, dass Rousseau in den letzten Jahren seines Lebens über zwanzig Dschungelbilder schuf.
Rousseau wohnte und arbeitete in Paris im Quartier Montparnasse in einem bescheidenen Wohnzimmer-Atelier. Seine Tätigkeit als Zollbeamter gab er 1893 auf, um sich ganz der Malerei zu widmen. Nebenbei komponierte er Musikstücke, schrieb skurrile Theatertexte (er war u.a. mit Alfred Jarry befreundet) und erteilte Kindern sowie Erwachsenen Mal- und Musikunterricht. Als Henri Rousseau 1891 im Salon des Indépendants sein erstes Dschungelbild, Surpris!, ausstellte, schrieb der Schweizer Maler Félix Vallotton am 25. März in Le Journal Suisse den ersten positiven Kommentar: „Mit jedem Jahr, das vergeht, wird Herr Rousseau immer eindrucksvoller (…) und erdrückt auch alles. Seinen Tiger, der die nichts ahnende Beute schlägt, muss man sich ansehen. Das ist das Alpha und Omega der Malerei und so erregend, dass die meisten tief wurzelnden Überzeugungen wanken und vergehen vor so viel Selbstgenügen und solch kindhafter Begeisterung. Übrigens, nicht alle lachen, und manche, die zuerst lachen wollten, wurden bald still. Es ist immer wunderbar, einen ganz festen Glauben, worauf auch immer er sich richtet, so konsequent vorgetragen zu sehen. Was mich betrifft, so schätze ich seine Anstrengungen sehr und ziehe sie hundertfach den kläglichen Irrtümern in anderen Bildern vor, die in der Nähe hängen.“
Einflussreicher Fantasie-DschungelLe lion, ayant faim wird üblicherweise auf 1905 datiert. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wurde es aber bereits 1898 für den Salon des Indépendants gemalt. Das Gemälde trug damals den Titel La lutte pour la vie. In keinem anderen Dschungelbild hat Rousseau den Horizont so tief gesetzt und das Blattwerk so durchlässig gestaltet. Fürs Publikum sind Löwe und Antilope genau in die Bildmitte gerückt, darum herum sind – panoramaartig – die anderen Tiere angeordnet: der Panther, die fleischfressenden Vögel und auf der linken Bildseite, etwas verdeckt, das grosse, zottige Mischwesen (ein Bär, Vogel oder Affe) mit dem Stock in der Pranke. Die grausige Tötungsszene wird vom kraftvoll gestaltet, dekorativen Blattwerk mit seinen feinmodulierten Grüntönen überstimmt. Nicht der Kampf um Leben und Tod, sondern die Vegetation dominiert das Bildgeschehen.
Nie hatte er einen Urwald gesehen, umso fantasievoller und farbenprächtiger erschuf er sich den Dschungel und dessen exotische Bewohner in seiner Malerei. Sehr vertraut waren ihm die exotischen Pflanzen und die Tiergehege des Jardin des Plantes. Als wichtige Bildquellen für seine Kunst benutzte er auch Postkarten, Fotografien, populäre Stiche und Illustrationen aus Magazinen. Oft kopierte er diese „Vorbilder“ mithilfe des Pantografen, eines technischen Geräts, das die Übertragung von Zeichnungen im gleichen, grösseren oder kleineren Massstab ermöglicht, in seine Gemälde. Zahlreiche Bildgegenstände oder Tierformen wirken daher wie „eingeklebt“ oder „collagiert“ – ein künstlerisches Verfahren, das für viele Maler des 20. Jahrhunderts von Pablo Picasso und Georges Braque über Max Ernst bis hin zu Roy Lichtenstein wegweisend war.
An der Vorliebe für Exotik und der Sehnsucht nach kolonial inspirierten Motiven, welche (gemeinsam mit Kubismus und Futurismus) die Art Deco-Bewegung auszeichnen, dürften Henri Rousseaus Dschungelgemälde ebenfalls nicht ganz unschuldig sein. Ein Foto aus dem Jahr 1929 dokumentiert z.B., wie im Salon des einflussreichen Pariser Modeschöpfers und Mäzens Jacques Doucet das Gemälde La charmeuse de serpents hing. Und Dekaden nach Duke Ellingtons „Jungle Sounds“ wird schliesslich auf dem Cover des 1955 erschienenen Album „Thelonius Monk plays Duke Ellington“ Rousseaus Le repas du lion mit seiner geheimnisvollen Exotik zieren. Rousseaus Fantasielandschaften verfehlten auch Jahre nach ihrer Entstehung ihre inspirierende und nahezu magische Wirkung nicht.
Fondation BNP ParibasDie Fondation BNP Paribas engagiert sich seit über 20 Jahren in der Restaurierung von Kunstwerken in Europa, Asien und den Vereinigten Staaten mit dem Anliegen, aktiv daran mitzuwirken, dass Museumsbestände erhalten bleiben und so an zukünftige Generationen weitergegeben werden können.
In der Schweiz hat sie bereits über 20 Projekte gefördert, die dem Erhalt bedeutender Werke unter anderem von Max Ernst, Mattia Preti, Auguste Rodin, Bram van Velde, Veronese und Léger galten. Die Fondation Beyeler freut sich, dass sie seit 2011 bei der Restaurierung von Hauptwerken der Sammlung auf die Unterstützung der Fondation BNP Paribas bauen kann. In den nächsten drei Jahren 2015 – 2017 wird sich das Restauratoren- und Kuratorenteam den folgenden Werken widmen: Pablo Picassos Femme (Epoque des »Demoiselles d’Avignon«), 1907, Andy Warhols Joseph Beuys, 1980, und Claude Monets Nymphéas, 1916 – 1919.
Täglich 10 - 18 Uhr, mittwochs 10 - 20 Uhr.Das Museum ist an allen Sonn- und Feiertagen geöffnet.Erwachsene CHF 25.–Gruppen ab 20 Personen* und IV mit Ausweis CHF 20.
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