OLIVER ELSER (Architekturkritiker, Kurator, Autor): „Die Spatial Splittings (deutsch: Raumspaltungen) sind eine von Hagen Stier entwickelte Methode, ein symmetrisches Gebäude zuerst in Teile zu zerlegen und diese anschließend so zusammenzufügen, dass ein neues Gebilde entsteht. Durch die Kombination von Schuss- und Gegenschuss, oder durch das Zusammenziehen von eigentlich weit voneinander entfernten, aber zueinander spiegelbildlichen Situationen wird das weltberühmte und tausendfach fotografierte Postsparkassengebäude von Otto Wagner neu zusammengesetzt. Einige der Splittings wirken auf den ersten Blick wie einfache Spiegelungen. Aber das ist nie der Fall. Rechte und linke Bildhälfte zeigen jeweils nur fast dasselbe. In einem symmetrischen Gebäude wie der Postsparkasse, deren Grundrissgeometrie überaus komplex ist, gibt es eben jede Ecke, jeden Gang, jedes Treppenhaus und jede Türöffnung immer zweimal. Mindestens. Auf der einen und dann nochmals auf der anderen Seite der Symmetrieachse, die das Bauwerk durchschneidet. In der Kassenhalle hat Otto Wagner die Symmetrie auf die Spitze getrieben: In diesen Raum lassen sich sogar zwei Achsen hineinlegen, an denen die Architektur jeweils gespiegelt wurde.
Für Otto Wagner waren Symmetrie, Raster und Normierung die Grundprinzipien seines rational-effizienten Bürogebäudes, das zu den weltweit ersten Bauten zählt, mit denen die Moderne Architektur zum Durchbruch gelange. Dass in Wien hingegen dieser Aufbruch von Rückschlägen begleitet wurde, zeigt der Vergleich der Postsparkasse mit der direkt gegenüberliegenden Fassade des ehemaligen Kriegsministeriums. Dieses ist einige Jahre nach der Postsparkasse errichtet worden, steckt aber noch tief im Historismus. 1906 eröffnete Wagners Postsparkasse, 1913 wurde das Kriegsministerium eingeweiht. Die Rationalität der Planung kam damals unmittelbar dem Betriebsklima der Angestellten der Postsparkasse zugute. Wagners Entwurf war nicht zuletzt ein Konfliktvermeidungsgebäude. In dem Vorgängerbau herrschten unzumutbare Zustände. Man saß in schlecht belichteten und kaum belüfteten Räumen zu eng aufeinander. Um Streik und Aufruhr abzuwenden, wurde der Neubau als revolutionär menschenfreundliche, gleichwohl hocheffiziente Maschine entwickelt.
Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass trotz der hervorragenden Planung Otto Wagners das Postsparkassengebäude derzeit unterhalb seiner Möglichkeiten genutzt wird. Eine Sanierung der 2000er-Jahre hat die Kassenhalle in eine museale, aber leere Hülse verwandelt. Die Bankgeschäfte finden in Räumen weit hinter den historischen Schalteranlagen statt. Auf den Fotos von Hagen Stier ist diese neue Realität nur für aufmerksame Betrachter erkennbar. Die Aufnahmen erschließen durch den Einsatz der Raumspaltungen neue Sichtweisen im Genre der Architekturfotografie.
Ohne dass man es merken würde, sind auch die übrigen, nicht erkennbar gesplitteten Aufnahmen in dieser Parabol-Ausgabe aus mehreren Bildern zusammengesetzt. Hagen Stier verwendet das Shift-Objektiv seiner Kamera dazu, zwei unmittelbar aneinander grenzende Aufnahmen desselben Motivs zu machen und so die Informationsdichte zu erhöhen. Dokumentation und Detail, so lauteten die Arbeitstitel für diese beiden anderen Bildarten des Fotoprojekts. Sie entstanden im dreigeschossigen Tresorraum, in dem das denkmalgeschützte Archiv der Bank untergebracht ist, in der Schließfachanlage und den ehemaligen Direktionsräumen, in der Zwischendecke über der Kassenhalle und auf dem Dach. Eine Art „Making-of“ zeigt die Bildserie auf der vorletzten Doppelseite. Denn was auf den ersten Blick als Doppelbelichtungen erscheint, sind die Vorstufen zu den Splittings mit übereinander gelegten, transparenten Ebenen. In der nächsten Bearbeitungsstufe werden sie dann wieder getrennt. Splitting Postsparkasse ist eine Hommage an Otto Wagner. Und eine Versuchsanordnung. Es entsteht eine Art Hyper-Postsparkasse, eine Übertreibung und Zuspitzung von Wagners Architektur. Man muss sich in manche Fotos mit einiger Mühe hineindenken. Um sie zu verstehen, bräuchte man einen Grundriss, in dem die Blickrichtung der Kamera mit Pfeilen markiert ist. Das Bild des Innenhofs ist das wohl rätselhafteste der Reihe. Paradoxerweise entsteht durch die ultra-formale Abbildung der Architektur ein Gefühl dafür, wie die Räume, die auf den Bildern von Hagen Stier erst auseinander- und dann wieder zusammengebaut werden, tatsächlich aufgebaut sind. Die Aufnahmen legen die Struktur des Gebäudes frei, wie ein Chirurg mit seinem Skalpell die Knochen freilegt. Fotografien sind Konstruktionen der Wirklichkeit. In Hagen Stiers Splittings folgt die Bildkonstruktion so nah der Baukonstruktion, dass zugleich rationale wie surreale Bildräume entstehen."
UDOLF LEEB (Sponsoring / BAWAG P.S.K.):"Die Postsparkasse von Otto Wagner wurde vor 110 Jahren als Zentrale einer Bank gebaut. Sie ist eines der Statements moderner Architektur in Wien um 1900 und erfüllt seither ihre Funktion als Hauptquartier, heute der BAWAG P.S.K. Das Jubiläum 150 Jahre Wiener Ringstraße im Jahr 2015 hat die BAWAG P.S.K. zum Anlass genommen, eine künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Gebäude zu initiieren.Die BAWAG P.S.K. hat eine mehr als 40-jährige Tradition in der Förderung von Kunst und Kultur in Österreich. Einerseits hat sie sich mit einer eigenen Galerie und dem Aufbau einer Sammlung einen Namen gemacht, andererseits ist die Bank mit ihrem Corporate Involvement in verschiedenen Bereichen der Kultur engagiert.
Die Sonderedition des Parabol Art Magazine »The splitting issue« von Oliver Elser und Hagen Stier hat die Form einer zweidimensionalen Ausstellung und knüpft an die Aktivitäten der BAWAG P.S.K. Contemporary an, die mit Ende 2013 ihren eigenen Ausstellungsraum aufgeben musste. Aus dem Blickwinkel eines Fotografen und eines Kurators, beide auch Architekten, wird der prominente Bau neu interpretiert, seziert und in ein außergewöhnliches Licht gerückt. Die Betrachter haben nun die Möglichkeit, das Gebäude aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen und sind dabei nicht an einen realen Ausstellungsort gebunden.
Wir hoffen, Sie nehmen dieses Heft als Anregung, die Postsparkasse bei der einen oder anderen Gelegenheit persönlich zu besuchen und dabei, vielleicht auch im realen Museum Wagner:Werk, noch weitere architektonische Details zu entdecken."
OLIVER ELSER (Architekturkritiker, Autor, Kurator / Deutsches Architekturmuseum Frankfurt am Main)
Oliver Elser ist Kurator am Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main und arbeitet als Architekturkritiker für verschiedene Medien. Im DAM hat er Ausstellungen zur Architektur der Postmoderne, über Architekturmodelle im 20. Jahrhundert und über die Architekten Erich Schelling und Simon Ungers kuratiert. Als freier Kurator konzipierte er mit Michael Rieper die Ausstellung „Housing Models: Experimentation and Everyday Life“ – gezeigt in Wien, Sofia und Belgrad. Von 1999 bis 2006 entstand mit dem Künstler Oliver Croy das Projekt „Sondermodelle: Die 387 Häuser des Peter Fritz, Versicherungsbeamter aus Wien“, das zuletzt im Jahr 2013 auf der Kunstbiennale in Venedig im Palazzo Enciclopedico präsentiert wurde.
Elser arbeitet seit 1995 als Architekturkritiker und -journalist für Zeitungen und Zeitschriften, wie beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Texte zur Kunst, Frankfurter Rundschau, AD – Architectural Digest, Der Standard, profil, db, frieze d/e oder Bauwelt. Für das europäische Architekturmagazins A10 war Elser Österreich-Korrespondent. Er ist Co-Autor eines Buches über die Rolle der Architektur im Tatort, Deutschlands beliebtester Krimi-Reihe. Sein Dokumentarfilm „Counter Communities“ (mit Oliver Croy) wurde auf Festivals in Vladivostok, Budapest, London und Graz gezeigt.
Gegenwärtig arbeitet Elser an einer Ausstellung über brutalistische Architektur. Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern in Frankfurt am Main.
HAGEN STIER (Architekt, Architekturfotograf)Hagen Stier studierte Architektur an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Parallel zu seiner Tätigkeit als Architekt widmete er sich bereits früh dem autodidaktischen Studium der Architekturfotografie und ist seit über zehn Jahren auch als Auftragsfotograf tätig. Neben Dokumentationen für zahlreiche Architekturbüros, Galerien und Museen entwickelte Hagen Stier freie künstlerische Fotoserien, die in diversen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt und in der Fachpresse publiziert wurden. Diesen konzeptionellen Serien liegt immer ein bestimmtes räumliches Phänomen zugrunde, das Stiers Interesse weckt. Um dieses sichtbar zu machen, wendet er eine jeweils spezifische Aufnahmemethodik an. Zur Untersuchung der verschiedenen Aspekte der Symmetrie im Spätwerk des Architekten Ludwig Mies van der Rohe entwickelte er beispielsweise die sogenannten Spatial Splittings (deutsch: Raumspaltungen) die durch die gezielte bildliche Gegenüberstellung von zwei einander verwandten Räumen eine übergeordnete Lesart ermöglichen und dabei gleichzeitig neue fiktive Raumzusammenhänge erzeugen. Die daraus resultierende Serie "Splitting Mies" behandelt neben der Neuen Nationalgalerie in Berlin und diversen Bauten in Chicago in besonderem Maße das Seagram Building in New York.
Hagen Stier hat mehrere Jahre in New York gelebt und gearbeitet. An der Bar des Four Seasons Restaurants im Seagram Building haben sich Elser und Stier das erste Mal getroffen. Danach entstand in Frankfurt die gemeinsame Dokumentation von etwa 80 Architekturmodellen aus der Sammlung des Deutschen Architekturmuseums. Das Fotoprojekt zu Otto Wagners Postsparkasse ist die zweite Zusammenarbeit der beiden.
Hagen Stier lebt und arbeitet als freier Architekt und Architekturfotograf in Hamburg.
PARABOL ART MAGAZINEParabol Art Magazine ist ein internationales Magazin für zeitgenössische Kunst; ein Projekt des Art Consulting Büros section.a, der Design Agentur section.d und des Art Directors Chris Goennawein, das 2015 sein 10-jähriges Bestehen feiert. Ziel von Parabol ist es, zeitgenössischen Kunstformen in Format eines zweidimensionalen Ausstellungsraumes Platz zu geben. Jede Ausgabe konzipiert ein Kurator bzw. eine Kuratorin. Seine bzw. Ihre Aufgabe ist es, ein zeitgenössisches Phänomen anhand künstlerischer Positionen in Bild und Wort zu thematisieren.
Mit seiner außergewöhnlichen Größe von aufgefaltet beinahe DIN A1 rückt Parabol besonders der Bildaspekt in den Vordergrund. Das Magazn erscheint ein Mal im Jahr in englischer Sprache in einer limitierten Auflage von 1.500 Stück und liegt in ausgewählten Buchgeschäften und Museumsshops in Österreich, Deutschland und der Schweiz auf.
Parabol SE ermöglicht als Sonderedition des Parabol Art Magazine Unternehmen, Institutionen oder Sammlungen, sich innovativ und unkonventionell in einem außergewöhnlichen Rahmen zu präsentieren. Dem Konzept des Magazins folgend wird auch für Parabol SE ein/e KuratorIn eingeladen, nach einem gemeinsam entwickelten Themenschwerpunkt, eine zweidimensionale Ausstellung zu entwickeln.
Ergebnis des beispielhaften "Corporate Involvement" ist die Sonderedition des Parabol Art Magazine »The Splitting Issue«. Erscheiungstermin ist der 19. Mai. Der Präsentation und Ausstellungseröffnung um 18.30 Uhr geht eine exklusive Presse- und VIP Tour durch die Otto Wagner Postsparkasse um 17.00 Uhr voraus. Oliver Elser, Hagen Stier und Rudolf Leeb (Sponsoring / BAWAG P.S.K.) führen durch das Gebäude und erläutern ihre Zugänge.
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