Einzelne Lettern, die sich im Setzkasten verirrt haben, werden „Zwiebelfische“ genannt. Dieser Titel hat daher in mehrfacher Hinsicht metaphorische Bedeutung für ein Projekt, das Facetten der Biographie von Hans-Ulrich – genannt Jimmy – Ernst (1920-1984) und die Geschichte des Druckhauses Augustin in einer Ausstellung, einem Film und einer Publikation widerspiegelt. Das Mainzer Gutenberg-Museum ist daher im Jahr, in dem Mainz den Titel „Stadt der Wissenschaft“ trägt, als „Spielstätte“ geradezu prädestiniert. 1935 nimmt die weltbekannte, 1632 gegründete und seit 1775 von der Familie Augustin geführte Fremdsprachendruckerei Augustin in Glückstadt bei Hamburg den fünfzehnjährigen Sohn der jüdischen Kunsthistorikerin Louise Straus-Ernst und des surrealistischen Malers Max Ernst in ihre Obhut und ermöglicht ihm eine Schriftsetzerlehre. In der Firma, die Kontakte zu den renommiertesten Wissenschaftlern aller Fachgebiete unterhält, können Texte in allen Sprachen der Welt, sogar in Keilschrift oder Runen, sowie komplexe Formeln und Tabellen gesetzt werden. Diese Leistung wird in Wissenschaftskreisen weltweit anerkannt, zumal der nicht diskriminierende bzw. nicht wertende Blick auf fremde Kulturen gerade auch vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Herrschaft äußerst bemerkenswert ist (Beispielhaft ist die Beschreibung des türkischen Schattenspiels – in osmanischer und lateinischer Schrift nebeneinander gesetzt. Diese Genauigkeit, die den kulturellen Umbruch der Atatürkischen Reformen dokumentiert, führt eine Weltoffenheit vor Augen, die noch heute Bewunderung verdient).
Die vielen Fremd-Alphabete, darunter arabisch, hebräisch, griechisch, äthiopisch, koptisch, tamilisch, tibetisch, japanisch etc., prägen Ernsts weiteres Leben: nach der Lehrzeit gelingt ihm mithilfe der Augustins die Emigration nach New York, wo er in amerikanischen Augustin-Dependance Arbeit findet. Durch den Kontakt mit der New Yorker Kunstszene etabliert sich Jimmy Ernst als Maler; seine Mutter wird 1944 in Auschwitz ermordet, sein weltberühmter, 1941 ebenfalls nach New York geflüchteter Vater stirbt 1976 in Paris.
Die seit der Branchenkrise in den 1970er Jahren im Dornröschenschlaf liegende Druckerei Augustin wird durch die Ausstellung zum Leben erweckt: wertvolle Leihgaben wie der seinerzeit eigens für den Satz chinesischer Texte konstruierte „Satzzirkel“ (Rundsetzkasten mit tausenden Schriftzeichen nach Nummern geordnet), einer von weltweit fünf existierenden, Maschinen (Augustin erwarb bereits 1910 die ersten Monotype-Maschinen) und eine Auswahl der bei Augustin entstandenen (Wissenschafts)-Literatur werden neben Werken von Jimmy Ernst gezeigt.
Ein weiterer Baustein, der 2010 entstandene, gleichnamige Film von Christian Bau und Artur Diekhoff, dokumentiert die geheimnisvollen Schriftzeichen, Symbole und Alphabete und untermalt mit poetischen Bildern Textpassagen aus Jimmy Ernsts Memoiren. Der Film wurde mit dem Norddeutschen Filmpreis als beste Dokumentation sowie für die Filmmusik der Klangkünstlerin Ulrike Haage ausgezeichnet.
Das Buch zum Film präsentiert Filmstills und Texte. Darüber hinaus konnte die renommierte Kölner Fotografin Candida Höfer (Teilnehmerin der documenta 11 und der Biennale in Venedig) gewonnen werden, ihre Dokumentation der Druckerei Augustin wird ebenfalls ausgestellt.
Projektleiterin: Dr. Annette Ludwig, Direktorin, Gutenberg-Museum Mainz, Mainz, den 15.03.2011 Dr. Annette Ludwig Direktorin