Eine unbekannte Frau spricht in den Phonographen (548 KB) Sammlung Hans Lichtenecker © Namibian Scientific Society in Windhoek Eine unbekannte Frau spricht in den Phonographen (548 KB) Sammlung Hans Lichtenecker © Namibian Scientific Society in Windhoek - Mit freundlicher Genehmigung von: khm

Was: Ausstellung

Wann: 25.05.2011 - 19.09.2011

Eine Ausstellung des Museums für Völkerkunde in Kooperation mit dem Zentrum Moderner Orient und den Basler Afrika Bibliographien

Die Ausstellung Was Wir Sehen setzt sich mit der verstörenden Geschichte historischer Ton- und Bilddokumente aus dem südlichen Afrika auseinander. Im Zentrum steht das 1931 von dem deutschen Künstler Hans Lichtenecker als „Archiv aussterbender…

Eine Ausstellung des Museums für Völkerkunde in Kooperation mit dem Zentrum Moderner Orient und den Basler Afrika Bibliographien

Die Ausstellung Was Wir Sehen setzt sich mit der verstörenden Geschichte historischer Ton- und Bilddokumente aus dem südlichen Afrika auseinander. Im Zentrum steht das 1931 von dem deutschen Künstler Hans Lichtenecker als „Archiv aussterbender Rassen“ angelegte Körperarchiv von Afrikanerinnen und Afrikanern in Namibia, dem ehemaligen (Deutsch-)Südwestafrika. Was Wir Sehen rückt das Sprechen jener Menschen in den Mittelpunkt, die innerhalb eines kolonialen Kontextes Gesichtsabformungen, Körpervermessungen, anthropometrisches Fotografieren und Stimmaufnahmen erdulden mussten. Auch Stimmen galten als anthropologisches Sammlungs- und Klassifizierungsgut und wurden von Lichtenecker auf Wachswalzen aufgezeichnet. Die afrikanischen Texte wurden erst kürzlich von der Kulturwissenschaftlerin Anette Hoffmann wiederentdeckt und konnten übersetzt werden. Was Afrikanerinnen und Afrikaner 1931 über das beklemmende Anthropometrie-Projekt und über ihr Leben in der südafrikanischen Kolonie mitteilten, erfahren wir erst heute. Die Ausstellung konstruiert einen fragilen Raum von Bildern und Stimmen, Geschichten und Porträts, historischen Dokumenten und aktuellen Kunstwerken. Das koloniale Körperarchiv von Hans Lichtenecker wird nicht nachgebildet. Vielmehr werden seine audiovisuellen Repräsentationspraktiken kritisch und mittels unterschiedlicher Ton- und Bildmedien beleuchtet.

Die Ausstellung war bereits in der IZIKO Slave Lodge in Kapstadt (Südafrika) sowie in den Basler Afrika Bibliographien zu sehen und wird erstmals in deutscher Übersetzung in Wien gezeigt. Anette Hoffmanns kritische Aufarbeitung von Lichteneckers Projekt dekonstruiert auf eindrückliche Weise die erniedrigende Praxis der Vermessung des Menschen im ehemaligen (Deutsch-)Südwestafrika seit dem späten 19. Jahrhundert, die auch in der österreichischen ethnographisch-anthropologischen Forschung ihren Niederschlag fand. Einer der Gründerväter der österreichischen Anthropologie, Rudolf Pöch, sammelte im Rahmen der Kalahari-Expedition bereits 1907 Tonaufnahmen, Gipsabdrücke, menschliche Überreste und Ethnographica, die heute zum Bestand des Phonogramm-Archivs Wien, des Naturhistorischen Museums und des Museums für Völkerkunde Wien zählen. Das Rahmenprogramm zur Ausstellung Was Wir Sehen greift diese Bezüge zu Wien in Form einer Exkursion in die Abguss-Sammlung des Naturhistorischen Museums sowie eines Vortrags zu Rudolf Pöchs anthropometrischen Forschungen auf.

Zur Ausstellung liegt der mit vielen Fotografien, Tontranskriptionen und Übersetzungen von Anette Hoffmann herausgegebene wissenschaftliche Aufsatzband What We See. Reconsidering an Anthropometrical Collection from Southern Africa: Images, Voices, and Versioning (Basler Afrika Bibliographien 2009, in englischer Sprache) vor.

Lichtenecker–Archiv Hans Lichtenecker (1891–1988), ein deutscher Künstler aus Gotha, hatte bereits vor und während des 1. Weltkriegs in Namibia, dem ehemaligen (Deutsch-)Südwestafrika, gelebt. Die Idee eines „Rassenarchivs“ brachte ihn 1931 zurück nach Namibia, wo er Gesichtsabdrücke von Afrikanerinnen und Afrikanern anfertigte, anthropometrische Messungen und Stimmaufnahmen durchführte sowie im Auftrag des Berliner Rassenideologen Eugen Fischer fotografierte. Das antizipierte „Verschwinden“ von „Rassen“ und Kulturen, insbesondere von Sprechern der sog. Khoisansprachen im südlichen Afrika, führte zu einer verstärkten anthropologischen Sammeltätigkeit von menschlichen Überresten und zu vielfältigen Versuchen, die physischen Merkmale von Menschen, ja selbst ihre Stimmen, zu klassifizieren und zu archivieren. Lichteneckers Tonaufnahmen waren zur Sammlung von „Stimmen von Eingeborenen“ gedacht. Ihn interessierte weder die Sprache, in der Afrikanerinnen und Afrikaner vor dem Aufnahmegerät vortrugen, noch das, was sie inhaltlich mitteilen wollten. Auch im Berliner Phonogramm-Archiv, wo die Sprechaufnahmen anschließend archiviert wurden, fanden sie jahrzehntelang keine wissenschaftliche Beachtung, da es sich nicht um Gesangs- oder Musikaufnahmen handelt.

Erst 2007 konnten die originalen Wachswalzen digitalisiert werden; sie wurden anschließend in Namibia transkribiert und übersetzt. Die Übersetzungen ergaben erstaunliche, oft bestürzende Kommentare zu Lichteneckers Abbildungs- und Vermessungsprojekt, aber auch zur kolonialen Lebenssituation von Afrikanerinnen und Afrikanern im Namibia von 1931. Im scharfen Kontrast zu der ihnen zugedachten Rolle als „Rassenexemplare“ präsentieren sich die Sprecherinnen und Sprecher in den Tonaufnahmen als soziale Akteure, indem sie aus ihrer Lebenswelt berichten, einen literarischen Text rezitieren oder scharf gegen die anthropometrische Praxis protestieren.

Ausstellung

Die Ausstellung setzt sich anhand von Lichteneckers Dokumenten, insbesondere seinen Fotografien und seinem Tagebuch, kritisch mit der Produktion seines anthropometrischen Archivs auseinander. Die in der visuellen Repräsentationspraxis zum Ausdruck kommende Objektivierung von Menschen, die seinem Archiv inhärent ist, wird durch die Kommentare der betroffenen Menschen gebrochen und infrage gestellt. In der Ausstellung sind diese Kommentare in den Sprachen Otjiherero und Khoekhoegowab zu hören und in deutscher Übersetzung zugänglich. Sie legen nicht nur den damaligen erniedrigenden Prozess der Klassifizierung nach „Rassen“ und Typen bloß, sondern enthalten auch gezielt formulierte „Nachrichten an Deutschland“, die erst jetzt, mit einer Verzögerung von 80 Jahren, zu hören sind. Die Tonaufnahmen machen außerdem deutlich, dass die fotografische Darstellung, zumal in ihrer verschärften anthropometrischen Form, bedeutsame Aspekte des sozialen Selbst nicht wiedergeben kann. Das Hören der Kommentare erlaubt eine Verschiebung der Wahrnehmung von kolonialer Geschichte – die eher gesehen oder gelesen wird –, womit die Reflexion der Ausstellungsbesucherinnen und –besucher in Bezug auf die eigenen Sehgewohnheiten verstärkt wird. Die Ausstellung porträtiert fünf der im Jahre 1931 beteiligten Namibierinnen und Namibier mittels Fotografien, Tonaufnahmen und Texten: Lena und Haneb (in beiden Fällen ist kein Nachname bekannt) sowie Andreas Goliath, Wilfred Tjiueza und Isaak Witbooi. In Videointerviews aus dem Jahr 2008 erinnern sich Nachfahren oder Verwandte an sie. Zusätzlich haben junge Kunstschaffende aus Namibia und Südafrika – Alfeus Mvula, Sanell Aggenbach, Lonwabo Kilani, Mustafa Maluka und Mzuzile Mduduzi Xakaza – die 1931 fotografierten Namibier für die Ausstellung re-porträtiert. Ihre Kunstwerke stehen im Dialog mit den anthropometrischen Fotografien, den Stimmaufnahmen und den Videos und schaffen so unterschiedliche Varianten der Repräsentation.

Was Wir Sehen beleuchtet Aspekte imperialer Darstellungspraktiken, bei denen die Produktion von Bildern und Abbildungen der/des Anderen im Mittelpunkt steht. In der Wechselwirkung zwischen aktueller künstlerischer Darstellung, dem audiovisuellen Archivmaterial und rezenten Erinnerungen erweitert die Ausstellung den Blickwinkel unserer „Wahr“-nehmung. Die erstarrten kolonialen Bilder lösen sich auf, der Anspruch auf Objektivität des historischen, wissenschaftlichen Bildarchivs wird gestört. Ausstellungbesuchende können erleben, wie die Bedeutung dessen, „Was Wir Sehen“, in immer wieder neuen Versionen infrage gestellt wird.

Gastkuratorin: Anette Hoffmann, Kulturwissenschaftlerin und Afrikanistin, SARChI Social Change Program, University of Fort Hare, Südafrika Kuratorische Umsetzung in Wien: Julia Binter, Sammlung Afrika südlich der Sahara, Museum für Völkerkunde Wien Gestaltungskonzept: Jos Thorne, Kapstadt

Tags: Afrika, Anette Hoffmann, Foto, Gesicht, Hans Lichtenecker, Völkerkunde