Als Ansichtssache #9 steht mit Gustav Klimts „Bildnis einer Dame mit lila Schal“ ein Gemälde im Fokus, das dem Museum 2013 testamentarisch vermacht worden ist. Es lässt sich bis in die Sammlung von Georg Lasus (1851 – 1933) zurückverfolgen und hat sich seitdem im Besitz seiner Nachfahren befunden. Lasus war ein jüdischer, in Wien ansässiger Unternehmer, der weitere frühe Werke Klimts sein eigen nannte. Zu ihnen zählten u.a. das Bild „Bauernhaus mit Birken“ sowie die „Dame mit Hut und Federboa“, zwei Gemälde, die von der Familie wegen verfolgungsbedingter Finanznöte im Jahr 1939 an die Galerie St. Lucas verkauft werden mussten und später an das Belvedere gelangten, von wo sie 2001 restituiert wurden. Wo bzw. wann Georg Lasus die „Dame mit lila Schal“ erwarb, konnte noch nicht ermittelt werden.Das Gemälde, das anscheinend nie ausgestellt worden ist, war bislang nur der Forschung bekannt. Erstmals wird es von Johannes Dobai in seiner 1958 abgeschlossenen Dissertation zum Frühwerk Klimts erwähnt, 1967 dann auch in dem Werkverzeichnis von Dobai und Fritz Novotny abgebildet, wenn auch nur schwarzweiß und ohne den etwa 11,4 cm hohen Blattgoldstreifen, der am unteren Bildrand quasi als Sockelzone zu dem darüber befindlichen Bildnis im hochovalen Rahmen fungiert. Dieselbe Abbildung findet sich auch in den jüngsten Oeuvrekatalogen von Alfred Weidinger (2007) und Tobias Natter (2012), die das Bild um 1880 bzw. um 1888 datierten. Eine kürzlich erfolgte Reinigung gibt zu der Vermutung Anlass, dass das Bild tatsächlich einige Jahre später, wohl um bzw. kurz nach 1895, entstanden ist, denn das Inkarnat zeigt eine geradezu „impressionistisch“ flirrende Oberfläche aus rosafarbenen, blauen und orangen Tönen, die vergleichbar erst in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre in Klimts Werk begegnet. Dieser zeitliche Ansatz wird nicht zuletzt durch die Signaturform und durch die Verwendung eines Goldstreifens als Flächenornament und –ordnung gestützt, die an zwei Bilder von 1895, der „Liebe“ und dem „Hofschauspieler Josef Lewinsky als Carlos“, erinnert. Auch Weidinger und Natter haben sich mittlerweile vor dem gereinigten Original für eine spätere Datierung ausgesprochen. Mit großer Sicherheit wurde das Bild, das in der Infrarot-Aufnahme eine teilweise detaillierte Unterzeichnung aufweist, auf vorgrundierter Leinwand ausgeführt.
Wer die Unbekannte ist, konnte bislang nicht geklärt werden. Das dem Hochrechteck eingeschriebene Hochoval hat bereits verschiedene Autoren an eine Fotografie als Vorlage Klimts denken lassen, desgleichen der versunkene Ausdruck der Dargestellten. Dieser Verdacht erhärtet sich, wenn man einer Entstehung erst in den 1890er Jahren folgen möchte: der retrospektive Eindruck, den die Konzeption des Porträts und nicht zuletzt die etwas „hausbackene“ Tracht erweckt, lässt sich am ehesten durch die Verwendung einer einige Jahre älteren Porträtfotografie erklären. Vielleicht war die Dame, doch bleibt dies Spekulation, bereits verstorben oder in Trauer. So liegt in dem Bild allen Anschein nach ein Auftragswerk vor, das möglicherweise dem persönlichen Angedenken der Dargestellten dienen sollte. In diesem Zusammenhang war die Goldleiste am unteren Bildrand vielleicht für die Aufnahme einer Inschrift vorgesehen.
Mit den „Ansichtssachen“ hat die Gemäldegalerie im Jahr 2012 eine neue Ausstellungsreihe ins Leben gerufen. Im Fokus steht dabei jeweils ein außergewöhnliches Bild der Sammlung, das aus Platzgründen nur selten gezeigt werden kann oder das durch jüngere Forschungsergebnisse zu einer erneuten Betrachtung einlädt.