Wie sah das Zeitalter der Aufklärung die Antike? Welche Bilder dienten damals der Anschauung? Die Grafiken dieser Ausstellung vermitteln ein vielschichtiges und intensives Bild vom Geistesleben des 18. Jahrhunderts. Es war die Zeit, als Johann Joachim Winckelmann, der Begründer der klassischen Archäologie, oder auch der junge Goethe Italien bereisten. Als Vertreter der Aufklärung suchten sie nach einer idealen antiken Welt, die Vorbilder für die eigene Zeit liefern könnte. Das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg zeigt rund 100 Grafiken aus der Sammlung Wolfgang von Wangenheim, die der Berliner Sammler dem MKG anlässlich dieser Ausstellung vermacht. Sie stammen aus Italien, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland und entstanden im 16., 17. und 18. Jahrhundert. Die Grafiken von Bauwerken, Gemälden und Skulpturen interpretieren die Werke anderer Meister wie Michelangelo, Raffael, Giulio Romano, Primaticcio, Carracci, David oder Thorvaldsen. Die „Interpreten“ ihrer Werke, die die erschwinglichen Grafiken für die Daheimgebliebenen produzierten, kennen heute nur die Fachleute, obwohl unter ihnen großartige Könner waren. Heute ist es leicht möglich, die Originalwerke mit eigenen Augen zu betrachten, im Jahrhundert Winckelmanns war das nur wenigen wohlhabenden Bildungsreisenden vergönnt. Immerhin hat es auch im Hamburg jener Epoche nicht wenige Häuser gegeben, wo genau diese Blätter, diese Vervielfältigungen ausgestellt und bewundert wurden. Goethes Haus am Frauenplan zu Weimar vermittelt bis heute den Einblick in die Intérieurs jener Zeit mit ihren Ansichten aus zweiter Hand von ganz eigenem Reiz.In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ging von Rom eine Erneuerung der Künste aus. Nicht mehr die höfische Mode in Versailles war das große Vorbild. Man wandte sich der antiken Kunst zu. Skulpturen, Vasen und Fresken, die in römischen Ruinen gefunden wurden, aber auch architektonische Überreste boten ein detailliertes Bild von der römischen Antike. Reproduktionsgrafiken und topografische Ansichten vermittelten die Kenntnis der antiken Ornamente und Motive an Kunstzentren in ganz Europa. Aus Rom, dem Zentrum des neu erwachten Interesses am Altertum, brachten Reisende Ansichten der Stadt mit, von den antiken Ruinen und den Neubauten in Anlehnung an Formen des Altertums. In Rom sahen Pilger und Touristen die antiken Statuen und konnten plastische Kopien in kleinerem Maßstab erwerben, darüber hinaus grafische Abbildungen in großer Zahl und Vielfalt. Aus Rom und Neapel kamen immer genauere Wiedergaben antiker Malereien. Gleichzeitig wagten die Künstler der Neuzeit sich selbst an die Darstellung von Gestalten und Szenen der antiken Geschichte und Mythologie. Wie das lange Vergangene immer noch nachgewirkt, wie die alte Kunst immer wieder die neue inspiriert hat, das zeigt diese Ausstellung an ausgewählten Beispielen.
Von wechselvollen Zeiten zwischen Kunstfesten und Kriegen, zwischen Sinnenlust und Seuche, vom Streben nach einer besseren Welt inmitten einer ziemlich schlechten legen die Blätter Zeugnis ab. Die meisten der rund hundert Exponate entstammen dem 18. Jahrhundert, welchem die Kunst des 16., der Renaissance, zu einer zweiten Antike geworden war. Neben meisterhaften Zeichnungen nach Skulpturen in Schwarzweiß gibt es Wiedergaben von Vasenbildern und ganzen antiken Saalwänden in aquarellierter Farbigkeit. Zu bewundern ist jener Klassizismus, der mit Raffael begann und bis zu David und Corinth nachwirkte. Gezeigt wird aber nicht nur das Schöne, das in Ruhe Vollendete, der Glücksmoment, sondern auch der Zugriff von zerstörender Gewalt, von Marter, Krieg und Helden-Tod.
Sichtbar wird an den Exponaten auch etwas von der Geschichte der Annäherung der Neuzeit an die Antike, von der langsamen und allmählichen Wiedergewinnung alter Schönheiten. Das Mittelalter hielt die Götter und Idealmenschen der Alten für Werke negativer Intentionen und Hervorbringungen finsterer Mächte. Der Pilger liebte es, auf dem Höhepunkt seiner Wallfahrt nach dem Gebet vor den Altären der Heiligen einen Stein zu werfen auf eine seitab platzierte antike Venus, von deren Marmor heute nur noch ein Stumpf übrig geblieben ist. Eine derartige Gesinnung mussten die Künstler Italiens und später ganz Europas erst einmal überwinden. Ihre Formsicherheit und Naturnähe, all die von ihnen dargestellte Leibesschönheiten sollten verstanden werden als Befreiungen aus selbstverschuldeter Trübsal und als Rückbesinnung auf Menschenwürde und Lebenslust.
Die hier gezeigte Sammlung mit Bildern zum Nachleben der Antike wurde vor zwei Jahrzehnten begonnen und angelegt für Schloss Nöthnitz bei Dresden, wo Winckelmann von 1748 bis 1754 tätig war, also vor seinem Wirken in Rom, das ihm zu Weltruhm verholfen hat. Im Schloss war zu sehen, was er und später die Zeitgenossen Goethes vor Augen hatten, wenn sie nachdachten und schrieben über die griechische und die römische, die „klassische“ Antike. Als diese bedeutungsvolle Stätte unvermittelt als Immobilie verkauft wurde, musste für die Einrichtung eine neue Bleibe gesucht werden. Die Möbel befinden sich heute in Goethes Weimar, die Skulpturen im Winckelmann-Museum in Stendal. Von den Grafiken gehen die meisten über in das Eigentum der Stiftung für die Hamburger Kunstsammlungen, die sie dem Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg als Dauerleihgabe übergibt.