Die Deichtorhallen Hamburg zeigen vom 14. Juni bis 28. September 2014 in der Sammlung Falckenberg gemeinsam mit dem ZKM / Karlsruhe die erste große Retrospektive des 89-jährigen italienischen Künstlers GIANFRANCO BARUCHELLO in Deutschland. BARUCHELLO zählt zu den maßgeblichen Vertretern, die in den 60er/70er Jahren ausgehend von New York, aber auch in Italien, Frankreich, Deutschland und Österreich der bürgerlichen Kultur repräsentativer Kunst und dem kommerziellen Kunstbetrieb den Kampf ansagten und eine kritische, politisch und gesellschaftlich ausgerichtete Kunst forderten. Wie wenige andere Künstler hat BARUCHELLO über 55 Jahre an seinem Œuvre festgehalten und war nicht bereit, sich den ausufernden Kunstströmungen ab Ende der 70er Jahre zu unterwerfen.BARUCHELLOS Werke waren in mehr als 100 internationalen Einzelausstellungen und mehr als 300 Gruppenausstellungen sowie mehrfach auf der Biennale in Venedig (zuletzt 2013) und der dOCUMENTA (1977 und 2012) zu sehen. Die Ausstellung der Deichtorhallen wird von Dirk Luckow kuratiert und zeigt knapp 150 Werke BARUCHELLOS von 1957 bis 2014, darunter Malerei, Fotografie, Filme und raumgreifende landwirtschaftliche Installationen wie das Giftpflanzenbeet. Die Retrospektive steht damit in einer Reihe von Gemeinschaftsausstellungen, die sich mit dem Werk von Künstlern und Kunsttheoretikern auseinandergesetzt haben, darunter »Art and Politics. Erró, Fahlström, Köpcke, Lebel« (2003), PAUL THEK (2008), BOB WILSON (2010), Aby Warburg (ATLAS – HOW THE CARRY THE WORLS ON ONE’S BACK, 2011, kuratiert von Georges Didi-Huberman) und WILLIAM S. BURROUGHS (2013).
BARUCHELLOS künstlerische Handschrift gründet auf der Spannung zwischen ausgeschnittenen Bildelementen und Wortfetzen, zwischen dreidimensionalen Objekten und der reinen Malerei, mit der er seine Werke teilweise oder auch vollständig überdeckt. Seine Bildwelten konstituieren sich in den Leerräumen zwischen handschriftlicher Zeichnung und figurativer Enzyklopädie. BARUCHELLOS Objekte, Assemblagen und Schaukästen sind dreidimensionale Denkanleitungen und zugleich radikale Formeln ihrer unmöglichen Inventarisierung, seine Filme skurrile Etüden, die die Narration des Mediums ad absurdum führen. BARUCHELLO betont: »Die Bilder sind nie zufällig, sondern folgen mysteriösen Regeln der Anordnung, die ich nicht erklären kann.«
1924 in Livorno geboren, widmet sich GIANFRANCO BARUCHELLO nach einem Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften und einer Anstellung in der Gesellschaft zur chemisch-biologischen Erforschung und Produktion erst Ende der 50er Jahre der Kunst. Er experimentiert mit der Leinwand als Bildträger und komponierte Objekte mit recycelten gefundenen Materialien, ab 1962 entstehen Bilder auf großen Leinwänden. Auf weißen Oberflächen platziert BARUCHELLO sporadische Farbspuren, vage Formen und einzelne Linien.
In diesen Jahren lernt BARUCHELLO auch Marcel Duchamp kennen, mit dem ihn eine lange Freundschaft verbindet. 1965 entsteht der Film »La Verifica incerta« (1965), der anlässlich der Internationalen Berliner Filmfestspiele 2012 von Harun Farocki als »wegweisende Arbeit des Montagefilms« wiederentdeckt wird.
BARUCHELLOS Tendenz, sich mit seiner Kunst zunehmend von jeglicher unmittelbaren Interpretierbarkeit zu lösen, verstärkt sich im Laufe der sechziger Jahre, indem er seinen Gemälden mehr und mehr dreidimensionale Elemente und Collagen beifügt: Winzige Figürchen, kleine Objekte, Werkzeuge und Maschinenteile, Zeitungsausschnitte, Landkartenfetzen, Druckgrafiken. Die konsequente Weiterentwicklung mündet in den Schaukästen-Assemblagen, die BARUCHELLO mit zusammengeklebten und aufgestellten Papierfigurinen belebt oder mit Landkartenausschnitten tapeziert. In der Landwirtschaft untersuchte er den Gebrauchs- und Tauschwert von Agrarprodukten und Kunstwerken.
Die enorme Vielfalt des Œuvres GIANFRANCO BARUCHELLOS zeigt sich nicht zuletzt in der großen Zahl seiner Gedichte, Prosatexte, Essays und kleinen Zeichnungen. Die Geschichten und Orte seines Lebens sowie seine künstlerischen, politischen und literarischen Mythen wie die Liebe, die Freunde, die Gärten, Duchamp, Lacan finden sich in seinen minimalistischen Bildern und Objekten wieder.
KATALOGBaruchello: Certe idee. Herausgegeben von Achille Bonito Oliva und Carla Subrizi. Mit einem neuen Vorwort von Harald Falckenberg. Interview von Hans Ulrich Obrist. 4to. 482 S., englisch/italienisch, mit 300 meist farb., teils ganzseit. Electa: Rom, 2011/12, 55 Euro.