Böse Dinge. Eine Enzyklopädie des Ungeschmacks1909 eröffnet Gustav E. Pazaurek im Stuttgarter Landesmuseum eine „Abteilung der Geschmacksverirrung“ mit dem Ziel, Menschen zum „guten Geschmack“ zu erziehen. Diese Schausammlung enthält ausnahmslos abschreckende Beispiele kunsthandwerklicher Erzeugnisse, die den „schlechten“ Geschmack am Gegenstand entlarven sollen. Für die Ausstellung und in seiner Publikation „Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe“ entwickelt Pazaurek eine umfangreiche Systematik zur Klassifizierung der Dinge. Dabei greift er zu drastischen Begriffen wie „Dekorbrutalitäten“, „Materialvergewaltigung“ oder „funktionelle Lügen“. Worin aber liegt das Böse eines Objekts? Für Pazaurek vor allem in der äußeren Erscheinung, der Materialität und Konstruktion des Gegenstands. Er ist der Ansicht, dass Dinge einen starken Einfluss auf den Menschen haben und in der Lage sind, ihn in seinem Sein zu verändern. Pazaurek folgt damit der Auffassung des Deutschen Werkbunds, der zu Folge ein entsprechendes Wohnumfeld nicht nur die Lebensqualität, sondern auch den Menschen „bessern“ und ihn zu einem verantwortlich denkenden Mitglied der Gemeinschaft erziehen soll. Die Geschmacksbildung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch am Bauhaus und in der Reformbewegung Anhänger findet, richtet sich gegen die Prunksucht und die Dekorationswut der Gründerzeit, die als verlogen und
oberflächlich wahrgenommen wird. Pazaureks „Geschmacksbibel“ kann in diesem Kontext auch als ein Anti-Warenbuch verstanden werden. Die Vorgaben des Deutschen Werkbunds, denen sich Architekten, Gestalter und Wissenschaftler verschrieben haben, strahlen bis weit in die 1960er Jahre. Die Anwendung der historischen Kriterien auf die zeitgenössischen Produkte bietet viel Stoff für Diskussionen. Zum einen würde der Sinn eines solchen Kanons heute wohl in Frage gestellt, zum anderen würden wir, wenn schon nach Kriterien gefragt, ganz andere für relevant halten, wie etwa Nachhaltigkeit, Fair Trade, Artenschutz etc.
Name That ThingWas ist Kitsch, was ist guter Geschmack? Wer legt die Maßstäbe fest? Seit dem Zeitalter der Postmoderne ist der Glaube an die universelle Schönheit, an den ästhetischen Fortschritt hinfällig geworden. Kitschkunst spielt mit vielen Tabus des Bildungsbürgertums, mit der Leere von Klischees. Sie sprengt den traditionellen Kunstbegriff, wertet Alltagsgegenstände durch eine neue Kontextualisierung auf. Und längst gilt so mancher Kitsch als Kult. Aber befriedigt Kitsch nicht auch ein menschliches Bedürfnis? Welche Rolle spielen dabei die Museen, ihre Sammlungen? Was wird gezeigt, was bleibt verborgen in den Depots? Gleich kulturellen Archäologen haben sich die Studenten der Medienklasse von Prof. Arnold Dreyblatt an der Muthesisus Kunsthochschule Kiel in dem Projekt „Name That Thing“ mit diesem komplexen Thema auseinandergesetzt. In verschiedenen medialen Inszenierungen werden Objekte aus der Sammlung des MKG in neuen Zusammenhängen präsentiert und erfahren dadurch eine völlig neue Sichtbarkeit und Deutung. Thematisch spannt sich der Bogen von der sentimentalen Naturidylle und deren Tierwelt über die Erotik und Volksmusik bis hin zur Frage, ob sich über Geschmack überhaupt diskutieren lässt.
TauschbörseLöst man sich von den Instanzen der Geschmacksbildung und vom Diktat des „guten Geschmacks“, bleibt der gelebte Unterschied in der heutigen Gesellschaft übrig. Wie sehen die Besucher die Diskussion um „guten“ und „schlechten“ Geschmack? Was ist in ihren Augen ein „böses“ Ding? Im Rahmen der Ausstellung können sie all ihre aus der Mode gekommene Deko-Stücke, überflüssigen Souvenirs, Schwiegermutter-Geschenke, verunglückten Designobjekte oder aus einer Laune heraus gekauften Kitsch-Artikel mitbringen und gegen ein „böses“ Ding der anderen tauschen. Jeder mitgebrachte Gegenstand bekommt ein Identifikationskärtchen, auf dem sich der ursprüngliche Besitzer verewigt und den Grund nennt, warum der Gegenstand aus seiner Sicht „böse“ ist. Abgegeben werden kann jedes „böse“ Ding, das höchstens 30 x 30 x 30 cm groß und irgendwie schräg ist, das man verschenken, aber selbst nicht bekommen möchte und das es vielleicht sonst nie ins Museum schaffen würde. Ausgeschlossen sind Objekte, die leben, leuchten, Krach machen, Schmutz verursachen, schlecht werden können oder zum Anziehen sind.
„Böse Dinge. Eine Enzyklopädie des Ungeschmacks“ ist eine Ausstellung des Werkbundarchiv – Museum der Dinge, Berlin. Kuratorinnen: Imke Volkers und Renate Flagmeier, Werkbundarchiv – Museum der Dinge, Berlin
„Name That Thing“ ist eine Ausstellungskooperation des MKG mit der Muthesius Kunsthochschule Kiel. Kuratoren: Arnold Dreyblatt, Muthesius Kunsthochschule Kiel, und Claudia Banz, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
Projektleitung: Dr. Claudia Banz
Öffnungszeiten: Di –So 10 – 18 Uhr, Do 10 – 21 UhrEintrittspreise: 10 € / 7 €, Do ab 17 Uhr 7 €, bis 17 Jahre frei
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