August Sanders epochaler Porträt-Zyklus »Menschen des 20. Jahrhunderts« zählt zu den bedeutendsten Werken der Kunst- und Fotogeschichte des letzten Jahrhunderts. Sanders eindrückliches Bild der deutschen Gesellschaft, entstanden in den dramatischen Jahrzehnten zwischen Weimarer Republik und unmittelbarer Nachkriegszeit, hat nicht nur Künstler, Literaten und Philosophen seiner Zeit fasziniert, sondern bildete zugleich aufgrund seiner soziologischen Motivation, der seriell-typologischen Vorgehensweise und dem streng dokumentarischen Anspruch eine wichtige Referenz für das künstlerische Selbstverständnis zeitgenössischer Fotografen. Dies spiegelt sich auch in der Foto-Sammlung des Münchner Verlegers Lothar Schirmer wider, deren historischer Ausgangspunkt 80 Arbeiten des Künstlers darstellen.Dieses schon in den 1970er Jahren aus dem Nachlass erworbene Konvolut umfasst nicht nur mehr als 40 originale Bildnisse aus Sanders berühmtem Porträtwerk, darunter Inkunabeln wie die den Westerwälder Bauern gewidmete »Stammmappe«, das im streng neusachlichen Stil gehaltene Bildnis des Künstlers Heinrich Hoerle oder den in seiner visuellen Unmittelbarkeit beeindruckenden »Handlanger«, sondern auch eine seltene Gruppe weniger bekannter Rheinlandschaften und Köln-Veduten aus den 1930er Jahren. Gerade die beiden zuletzt genannten Werkgruppen belegen nachhaltig, dass sich Sanders Vision eines ebenso authentischen wie wahrhaftigen Zeitbildes nicht nur auf den Menschen in seinem sozialen und gesellschaftlichen Gefüge beschränken sollte, sondern dessen unmittelbare Umgebung, die Landschaft wie den urbanen Lebensraum, mit einbezog – ein Aspekt, der in der posthumen Würdigung des im April vor 50 Jahren verstorbenen Fotografen lange wenig Beachtung fand.
In Anbetracht der unbestrittenen Bedeutung von Sanders Porträtwerk überrascht, dass mit der Ausstellung »Menschen vor Flusslandschaft« erst jetzt eine umfassendere Auswahl seiner Arbeiten auch in München vorgestellt wird, und dies, obwohl die Verbindungen zwischen Künstler und Stadt durchaus mannigfaltig waren: Im hier ansässigen Kurt Wolff Verlag erschien 1929 Sanders bahnbrechender Bildband »Antlitz der Zeit«, ein Jahr später waren seine Arbeiten in der Ausstellung »Das Lichtbild« zu sehen – eine der seltenen Präsentationen Sanders vor 1933 überhaupt –, in den 1960er und 70er Jahren wurde sein umfangreicher Nachlass unweit von München verwahrt.
Die Ausstellung stellt Sanders fotografisches Œuvre in einem gleichermaßen repräsentativen wie pointierten Querschnitt vor, zugleich erweitert sie den Blick auf das Medium Fotografie, indem einzelne Werkgruppen Sanders in Dialog zu Arbeiten zeitgenössischer Künstler gesetzt werden. Ausgehend von einer Typologie von Bernd und Hilla Becher, Becher deren enzyklopädisch angelegtes Werk in unmittelbarer Nachfolge zu Sanders fotografischem Credo gesehen werden kann, umfasst die Auswahl, die um Arbeiten aus den Beständen der Sammlung Moderne Gursky, Kunst erweitert wurde, das Rheinbild von Andreas Gursky Stadtansichten von Thomas Struth und Jeff Wall wie auch Portraits u.a. von Thomas Ruff und Cindy Sherman Das Wechselspiel zwischen Vergangenheit und Sherman. Gegenwart, zwischen kleinformatigen Schwarzweißabzügen und Tafelbild großen Farbaufnahmen, zwischen streng dokumentarischen und inszenierten wie digital bearbeiteten Bildern veranschaulicht über alle zeitlichen und formalen Unterschiede hinweg nicht nur die Aktualität von Sanders Konzept, sondern auch die Etablierung der Fotografie als künstlerisch eigenständige Ausdrucksform im Kontext zeitgenössischer Kunst. Dieses Thema wird durch die begleitende Vortragsreihe »Why photography matters« weiter vertieft, in der die Künstler Hilla Becher und Thomas Struth wie die Kunsthistoriker Wolfgang Kemp und Michael Fried sprechen werden. Als kleine Hommage an einen weiteren historischen Vorläufer klingt die Ausstellung durch eine seltene Gruppe von Berlin- Fotografien Heinrich Zilles aus, die, um die Jahrhundertwende entstanden, 1985 von Thomas Struth unter Verwendung der Originalnegative vergrößert und neu interpretiert wurden.
Kuratorin: Inka Graeve Ingelmann
KatalogbuchAnlässlich der Ausstellung erscheint ein reich bebildertes Katalogbuch, 39,80 Euro.