Alexander Rodtschenko (1891–1956), eine treibende Kraft der russischen Avantgarde, zählt zu den großen Erneuerern der Fotografie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bereits bekannt als Maler, Bildhauer und Grafiker, stürmte er im Jahr 1924 die traditionelle Fotografie mit dem Leitsatz „Experimentieren ist unsere Pflicht!“ Stürzende Bilddiagonalen, harte Kontraste, schräge Aufsichten sowie Bild- und Textcollagen sind die gestaltenden Elemente seines fotografischen Werks.
Die zahlreichen Facetten seiner Fotografie beleuchtet die Ausstellung mit rund 200 Arbeiten Rodtschenkos, dessen Bildkonzeptionen und Manifeste bahnbrechend waren für die Entwicklung der modernen Fotografie. Neben weltberühmten Aufnahmen wie Porträt der Mutter (1924), Stufen (1929) oder Mädchen mit Leica (1934) zeigt das Fotomuseum WestLicht ein weites Spektrum seines dynamischen Blicks, darunter viele Vintage-Prints, ergänzt durch Rodtschenkos typografisches Schaffen, seine Plakate und Publikationen.
Als bedeutende Figur des Konstruktivismus, der in den Anfangsjahren der Revolution die Entwicklung der russischen Kunst maßgeblich prägte, wurde Rodtschenko auch auf dem Gebiet der Fotografie Motor einer Bewegung, die sich ähnlich wie Albert Renger-Patzsch in Deutschland und die Gruppe f/64 in den USA einer neuen Sachlichkeit in der Fotografie verschrieben hatte. „Neue unerwartete Verkürzungen, ungewohnte Perspektiven, kühne Licht-Schatten-Kombinationen tauchten auf, um möglichst scharf und deutlich die Ausschnitte aus der sozialen Wirklichkeit wiederzugeben“. (Katalog zur Film- und Fotoausstellung, Stuttgart 1929)
Dabei ging es um eine radikale Abkehr von überlieferten Sichtweisen und die Erschließung einer neuen Wirklichkeit, wie Rodtschenko 1928 in einem Aufsatz über Wege der zeitgenössischen Fotografie ausführte: „Die moderne Stadt mit ihren vielgeschossigen Häusern, die Werksanlagen, Fabriken [...], all das […] hat notwendigerweise die überkommene Psychologie der Wahrnehmung um einiges verändert. Es sieht so aus, als könne nur der Fotoapparat das moderne Leben abbilden“. Die Kamera, so Rodtschenkos zentrale Argumentation, entspreche dem aktiven Auge des Zeitgenossen und zerstöre das Primat der Normalsicht, der Bauchnabelperspektive, das die Malerei errichtet hatte. Das Kameraobjektiv ist für Rodtschenko „die Pupille des gebildeten Menschen in der sozialistischen Gesellschaft“.
Wie die Revolution den neuen sozialistischen Menschen geschaffen und die alte Ordnung hinweggefegt hatte, so sollte die Fotografie die überkommene Wahrnehmung überwinden und eine moderne Anschauung ermöglichen. „Der neue, schnelle und reale Reflektor der Welt, die Fotografie, sollte sich möglichst mit dem Abbilden der Welt von allen Punkten aus befassen […]. Um den Menschen zu einem neuen Sehen zu erziehen, muss man alltägliche, ihm wohl bekannte Objekte von völlig unerwarteten Blickwinkeln aus in unerwarteten Situationen zeigen“. Entsprechend lautete Rodtschenkos wesentliche und vielzitierte Forderung: „Wir müssen unser optisches Erkennen revolutionieren. Wir müssen den Schleier von unseren Augen reißen“.
Kuratiert von Olga Swiblowa, Direktorin des Museums Moskauer Haus der Fotografie.
In Zusammenarbeit mit Leica Camera. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Leica wird die Ausstellung erstmals in Österreich präsentiert.