Die erste große Foto- und Videoausstellung von Ai Weiwei - eine Übernahme vom Fotomuseum Winterthur - stellt den Kommunikator und unermüdlichen Erinnerer Ai Weiwei in den Vordergrund, den dokumentierenden, analysierenden, verflechtenden und über viele Kanäle kommunizierenden Künstler. Ai Weiwei hat bereits in seiner New Yorker Zeit (1983-93) fotografiert, vor allem aber seit seiner Rückkehr nach Peking unablässig die alltäglichen, städtebaulichen und gesellschaftlichen Realitäten in China dokumentiert und über Blogs und Twitter diskutiert. Die Fotografien des radikalen städtebaulichen Wandels, der Suche nach Erdbeben-Opfern, der Zerstörung seines Shanghai-Studios werden zusammen mit den kunstfotografischen Projekten, dem documenta-Projekt Fairytale, den unzähligen Blog- und Handy-Fotografien vorgestellt. Ein umfangreiches Material- und Archivbuch begleitet die Ausstellung. Ai Weiwei ist ein generalistischer, konzeptueller, gesellschaftskritischer Künstler, verschrieben der Reibung mit und der Gestaltung von Realitäten. Er ist als Architekt, Konzeptkünstler, Bildhauer, Fotograf, Blogger, Twitterer, Interviewkünstler und politischer Aktivist ein Seismograph für aktuelle Themen und gesellschaftliche Probleme: ein großer Multiplikator und Kommunikator, der das Leben zur Kunst und die Kunst zum Leben führt.
Ai Weiwei wurde 1957 als Sohn des Dichters Ai Qing geboren. Nach einem Studium an der Beijing Film Academy gründete er 1978 mit anderen zusammen das Künstlerkollektiv The Stars, das sich gegen den sozialistischen Realismus auflehnte und sich für die künstlerische Individualität und das Experimentelle in der Kunst einsetzte. 1981 ging Ai Weiwei in die USA, 1983 nach New York, wo er an der Parsons School of Design beim Maler Sean Scully studierte. In New York entdeckte er Künstler wie Allen Ginsberg, Jasper Johns, Andy Warhol und vor allem Marcel Duchamp. Duchamp ist wichtig für ihn, weil er Kunst als Teil des Lebens begreift. Es entstanden erste Readymades und Tausende von Fotografien, die seinen Aufenthalt und den seiner chinesischen Künstlerfreunde in New York dokumentieren. Nachdem sein Vater erkrankte, kehrte Ai Weiwei 1993 nach Peking zurück. 1997 begründete er das China Art Archives & Warehouse (CAAW) mit und begann, sich auch mit Architektur auseinanderzusetzen. 1999 eröffnete Ai Weiwei ein eigenes Studio in Caochangdi, 2003 gründete er das Architekturstudio FAKE Design. Im selben Jahr war er zusammen mit den Schweizer Architekten Herzog & de Meuron maßgeblich am Bau des Olympiastadions, des sogenannten Bird’s Nest, beteiligt, das nach seiner Fertigstellung zum neuen Wahrzeichen Pekings wurde. 2007 reisten 1001 Chinesinnen und Chinesen auf seine Veranlassung hin zur documenta 12 nach Kassel (Fairytale). 2010 verwunderte er die Welt mit seinem großen, aber formal minimal angelegten Teppich aus Millionen von Sonnenblumenkernen bestehend aus handbemaltem Porzellan in der Tate Modern.
Ai Weiwei setzt sich bewusst mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in China und in der Welt auseinander – mittels fotografischer Dokumentationen des architektonischen Kahlschlags von Peking im Zeichen des Fortschritts, mit provokativ erscheinenden Vermessungen der Welt, seinen persönlichen Standortbestimmungen in Study of Perspective, mit radikalen Schnitten an der Vergangenheit (Teilungen und Neuzusammenfügungen von vorgefundenen Möbelstücken), um für die Gegenwart und Zukunft Möglichkeiten zu schaffen, und mit seinen Zehntausenden von Blogtexten, Blog- und Handy-Fotografien (nebst vielen anderen künstlerischen Stellungnahmen). Dieses erste große Ausstellungs- und Buchprojekt seiner Fotografie- und Videoarbeiten will diese Vielfältigkeit, Vielschichtigkeit, Vernetztheit von Ai Weiwei mit Hunderten seiner Fotografien, mit seinen Blogs und mit erläuternden Essays ins Zentrum rücken und thematisieren.
Der Künstler als Netzwerk, als Firma, als Aktivist, als politische Stimme, als soziales Gefäß, als Agent provocateur: Jede Gesellschaft auf dieser Welt braucht zu jeder Zeit, in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, singuläre, herausragende Figuren wie Ai Weiwei, um wach zu bleiben, um wach gerüttelt zu werden, um den eigenen Starrsinn zu erkennen und um die eigene Betriebsblindheit vermeiden zu können. Wir sind außerordentlich froh, dass dieser große Denker, Gestalter und Kämpfer am 22. Juni 2011 aus der Haft entlassen wurde. Es ist zu hoffen, dass Ai Weiwei die ihm aufgebürdeten Auflagen bald hinter sich lassen und wieder als starke öffentliche Stimme auftreten kann.
Die Ausstellung wurde vom Fotomuseum Winterthur in enger Zusammenarbeit mit Ai Weiwei und seinem Assistenten Lucas Lai organisiert. Vor dem Kunsthaus Graz war sie im Fotomuseum Winterthur (28.05.-21.08.2011) zu sehen. Von 21.02. bis 29.04.2012 wird sie im Jeu de Paume in Paris gezeigt werden.
Zur Ausstellung erscheint bei Steidl, Göttingen, ein englisch-deutscher Katalog, der in Kooperation mit dem Künstler entwickelt wurde: Ai Weiwei – Interlacing, Hg. Urs Stahel / Daniela Janser, 496 Seiten, ca. 600 Abbildungen, mit Beiträgen von Carol Yinghua Lu, Daniela Janser, Urs Stahel und Philip Tinari. Preis: 39 €