Herlinde Koelbl zählt zu den renommiertesten deutschen Fotokünstler:innen, sie gilt vor allem als großartige Menschenfotografin, als Ethnologin mit der Kamera. Gezeigt werden ihre Werke in zahlreichen internationalen Ausstellungen, ihre Arbeiten sind in den Sammlungen bedeutender Museen und Institutionen vertreten; ihr Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Dr. Erich-Salomon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh).Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht der Mensch mit den unterschiedlichsten Facetten seines Seins. In ihrer mehr als 40-jährigen Tätigkeit als Fotografin geht es Herlinde Koelbl um Verstehen, Begreifen und Erfahren. Sie interessiert sich für die Aspekte von Werden und Vergehen, von Körperlichkeit, für sein Lebensumfeld und seine Lebensweise, das private und berufliche Agieren, seine gesellschaftliche Verantwortung. "Ich interessiere mich für Menschen. Aber es muss weitergehen als unter die Oberfläche." – so beschreibt sie selbst ihre künstlerische Motivation. Ihre Kunst präsentiert visuelle Zeitläufte, in denen wir uns verorten können.
Das Spektrum ihrer Themen ist vielfältig – ihre Serien sind künstlerische Interpretationen kultureller, gesellschaftlicher und philosophischer Fragen. Sie weiß um die Fähigkeit von Bildern, etwas sichtbar zu machen. Mit diesem Wissen, wählt sie die inhaltlichen Schwerpunkte ihrer Projekte. Nicht selten rückt dabei das Besondere im Alltäglichen in den Fokus, sie konzentriert sich auf bestimmte Gruppen von Menschen (Kinder, Schriftsteller:innen, Wissenschaftler:innen, Soldat: innen) oder sie widmet sich gesellschaftlichen Tabuzonen: Sexualität, Alter, Sterben, Töten. Bei ihrer Arbeit baut Herlinde Koelbl zu ihrem Gegenüber Nähe auf, gibt ihm Raum und bleibt dennoch eine Beobachterin auf Distanz. Ihre Bilder zeugen von Offenheit, unvoreingenommener Neugier. Sie sind eindrücklich, erzeugen Aufmerksamkeit. Ihre Arbeit basiert auf künstlerischen Konzepten. Dabei setzt sie nicht auf eine charakteristische Handschrift, einen wiedererkennbaren Stil, vielmehr sucht sie für das jeweilige Thema gezielt nach der passenden, adäquaten Bildsprache. Sie entscheidet von Projekt zu Projekt zwischen Farbe und Schwarzweiß und beherrscht das Dokumentarische genauso wie die Inszenierung.
Selten belässt Herlinde Koelbl es bei der bloßen fotografischen Aufnahme. Immer wieder lässt sie die Protagonist:innen zu Wort kommen, interviewt sie, realisiert aus diesen Tonaufnahmen eigene Audioprojekte oder ergänzt die Fotografie mit dem gesprochenen Wort in Form von Textzitaten. Ein weiteres Medium, das ihr zu einem wichtigen künstlerischen Instrument wurde, ist der Film bzw. das Video. So dokumentierte sie in "Rausch und Ruhm" den Drogenentzug von Benjamin von Stuckrad-Barre (ARD, 2003) und journalistische Arbeit in "Die Meute – Macht und Ohnmacht der Medien" (WDR, 2001). Aus vielen ihrer fotografischen Zyklen wie beispielsweise "Spuren der Macht", "Targets" und "Metamorphosen" entwickelte sie themengleiche Filme beziehungsweise Videos.
Unter dem Titel "Mein Blick" – der Titel einer gleichnamigen Publikation (2013) – präsentiert die Kunsthalle Erfurt nun mit der Auswahl von Bildern aus fast allen ihrer Serien, die zwischen 1980 und 2024 entstanden, einen Überblick über das intensive fotografische Schaffen von Herlinde Koelbl. Dazu gehören auch Bilder des aktuellen "Metamorphosen"-Projekts sowie bisher noch nie museal präsentierte Aufnahmen, die während mehrerer Reisen in die DDR im Auftrag der New York Times entstanden. Nachdem einzelne Serien in Halle/S. ("Faszination Wissenschaft", 2022, Leopoldina) und Leipzig ("Metamorphosen", 2023, Grassi Museum) zu sehen waren, ist es die erste umfangreiche Präsentation ihres Werks in den ostdeutschen Bundesländern.