Im Zentrum der Ausstellung »Die Geschichte einer Sammlung« steht die Sammlerpersönlichkeit Peter Selinka. Ausgehend von den drei Sammlungs- schwerpunkten – Deutscher Expressionismus, Künstler:innenbewegung Cobra und Gruppe Spur – gewährt die Ausstellung anhand bisher nicht ver- öffentlichter Dokumente neue Einsichten in Peter Selinkas Sammeltätigkeit. Was hat seine Sammelleidenschaft geweckt und einzelne Ankäufe ange- regt? Welche Spuren hat er verfolgt und welche Kontakte geknüpft, um seine Privatsammlung aufzubauen? Korrespondenzen mit Künstlern sowie mit Experten aus der Museumswelt und dem Kunsthandel beleuchten Schlüsselerlebnisse, zeugen von persönlichen Erinnerungen, unerfüllten Wünschen, Freundschaften, einer vermuteten Fälschung und seiner intensi- ven Auseinandersetzung mit der Kunst.
Ebenso wie es dem Selfmademan Peter Selinka gelang, als Autodidakt eine er- folgreiche berufliche Karriere als Werbefachmann und Inhaber mehrerer Agen- turen aufzubauen, entstand auch seine Kunstsammlung aus eigener Kraft. Wäh- rend seines ersten Jobs als Werbeassistent tätigte er seinen ersten Ankauf: eine Radierung von Ernst Ludwig Kirchner, die er in elf Monatsraten à 20 DM abbe- zahlte. Die Arbeit bildet den Beginn des Sammlungsschwerpunkts Deutscher Expressionismus mit Arbeiten der Künstlergruppe Brücke (1905–1913), ergänzt von Werken der Künstlervereinigung Blauer Reiter (1911–1914). Auch der spätere Erwerb des Gemäldes »Spanisches Mädchen« (1912) von Alexej von Jawlensky, das sich zuvor im Besitz des ehemaligen US-Vizepräsidenten Nelson Rockefeller befand, war nur mittels Ratenkauf möglich. Neben Ernst Ludwig Kirchner spielt Otto Mueller eine wichtige Rolle in der Sammlung, dessen Werk Peter Selinka zeitlebens für unterschätzt hielt. Selinkas Großvater hatte in Muellers Geburts- ort eine Glasfabrik und war befreundet mit dem Dichter Gerhart Hauptmann, ei- nem Förderer des Malers. »Meine Mutter hat mir von Otto Mueller und seinen Maler-Freunden erzählt«, so Peter Selinka, »das hat mein Interesse an der ex- pressionistischen Kunst geweckt.«
Der Ausstellungsteil der Klassischen Moderne ist in verschiedene Themen- schwerpunkte wie Mensch und Landschaft, Paare, Frauenbildnisse und Kriegs- geschehen gegliedert und umfasst neben Werken von Karl Schmidt-Rottluff, Erich Heckel, Max Pechstein, Franz Marc, Gabriele Münter, Wassily Kandinsky, Lyonel Feininger auch Arbeiten von Renée Sintenis, Edvard Munch und Otto Dix.
Bislang kaum bekannt ist, dass neben der Klassischen Moderne ein zweiter Schwerpunkt den Beginn seiner Sammelleidenschaft bildete. Zahlreiche Foto- grafien dokumentieren die erlesenen Stücke, die einst Bestandteil von Selinkas ca. 180 Exponate umfassenden Ostasiatika-Sammlung waren; diese befindet sich heute nicht mehr im Besitz der Familie. In einem Brief an den ehemaligen Gründungsdirektor des Brücke-Museums, den Selinka um ein persönliches Ken- nenlernen bittet, wird sein innerer Zweispalt deutlich: »Sie sind vielleicht der einzige Mensch, der verstehen kann, welche Fragen und Zweifel sich auftun, ein Bild von Heckel zu erwerben oder ein schönes Tang-Pferd in London zu erstei- gern.«
Peter Selinka ließ sich als Sammler nicht nur von seinem umfangreichen Wissen über die Kunst leiten, welches er sich in nächtelangem Studium und im Aus- tausch mit Experten aneignete. Häufig führten persönliche biografische Erinne- rungen zu Ankäufen, wie das kleinformatiges Gemälde »Sonnenuntergang am Jenissey« (1919) von Andreas Jawlensky, dem einzigen Sohn des berühmten Alexej von Jawlensky, belegt. Ein Briefwechsel mit Alexej von Jawlenskys Schwiegertochter beleuchtet die Bedeutung des Bildes für Selinka. Die Arbeit zeigt eine russische Landschaft am Fluss Jenissei und erinnerte ihn an eine ent- scheidende Episode im Leben seines verstorbenen Vaters, der an jenem Ort auf seiner Flucht im Ersten Weltkrieg Unterschlupf fand.
In den 1970er-Jahren erweiterte Peter Selinka sein Sammlungsspektrum zu- nächst um Arbeiten der internationalen Bewegung Cobra (1948–1951), dann der deutschen Gruppe Spur (1957–1965). Initialzündung war eine Pierre Alechinsky- Ausstellung in Paris (1975), die ihn begeisterte. Wie Selinka selbst formulierte, hatte er »durch diese Entdeckung plötzlich eine neue Aufgabe«. In einer Zeit, in der die Strömungen der amerikanischen Kunstwelt dominierten, legte er eine der größten Privatsammlungen mit ehemaligen Mitstreiter:innen der Cobra-Be- wegung in Deutschland an.
Spannende Korrespondenzen mit Experten beleuchten, wie Peter Selinka vor ei- nem Ankauf seine Zweifel ausräumte, ob es sich bei dem Gemälde »Apassio- nata« (1962) von Asger Jorn um ein Original oder eine Fälschung handelt. Über die Begeisterung für Asger Jorn wurde der Weg zur Gruppe Spur, einer jüngeren Künstler:innengeneration, geebnet. Neben malerischen Werken von Heimrad Prem, Helmut Sturm und HP Zimmer ist der Bildhauer Lothar Fischer am stärks- ten in der Sammlung vertreten, zu ihm stand das Ehepaar Selinka in freund- schaftlichem Kontakt.
Peter Selinka gelang es nicht nur, verschiedene Arbeiten namhafter Künstler:in- nen anzukaufen, sondern insbesondere auch Hauptwerke, was sein ausgepräg- tes Gespür für Qualität spiegelt. Gabriele Münter hielt beispielsweise das Ge- mälde »Gerade Straße« (1910) selbst für so gut, dass sie eine vergrößerte Replik ihres eigenen Gemäldes anfertigte. Die Arbeit »Eine Cobra-Gruppe« (1964) von Asger Jorn als treibender Kraft der Bewegung belegt die nachhaltige Bedeutung, die er der Künstler:innenbewegung auch rückblickend beigemessen hat.
Den drei Sammlungsschwerpunkten – deutscher Expressionismus, Cobra und Spur – ist Peter Selinka zeitlebens treu geblieben und damit einer expressiven Malerei, die Figuration und Abstraktion vereint. Mit den Mitteln der Kunst sollten Welt- und Werteverhältnisse neugestaltet werden. Da die Entstehung der Sammlung sowohl durch die intensive Auseinandersetzung mit der Kunst als auch durch persönliche Erlebnisse und Erinnerungen stimuliert wurde, zeugt die Sammlung Selinka sowohl von Kennerschaft wie auch von einer als lebensberei- chernd empfundenen Leidenschaft. »In jedem Fall ist ein Leben mit der Kunst besser als eins ohne«, resümierte Peter Selinka.
Kunstmuseum Ravensburg
Burgstr. 9, 88212 Ravensburg
geöffnet Mi bis So 11-18 Uhr,
Di, 14-18 Uhr, Do 11-19 Uhr
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