Anlässlich seines 300. Geburtstags erhält das Grüne Gewölbe durch die Ernst von Siemens Kunststiftung einen kostbaren Zuwachs: ein Prunkschach aus Elfenbein, Ebenholz, Schildpatt und Silber aus der Zeit des Museumsgründers, Augusts des Starken.Das Augsburger Schachspiel mit Figuren, die dem sächsischen Bildhauer Paul Heermann (1673–1732) zugeschrieben werden, gehört zu den spektakulären Neuentdeckungen der letzten Jahre im Bereich der europäischen Schatzkunst des Barock. Nachdem sich das Meisterwerk über Jahrhunderte in Privatbesitz befunden hatte, tauchte das Schachspiel 2018 auf dem Kunstmarkt auf. Dank der Ernst von Siemens Kunststiftung konnte es nun für das Grüne Gewölbe erworben werden.
Es handelt sich hinsichtlich Material und künstlerischer Bearbeitung um ein Prunkstück, dem kein bekanntes Äquivalent an die Seite gestellt werden kann. Die 32 Schachfiguren von maximal acht Zentimeter Höhe sind meisterhaft geschnitzte Miniaturen. Jede ist individuell realisiert und fügt sich zu einem Ensemble von höchster Suggestionskraft zusammen. Die Figuren stellen „europäisch“ und „afrikanisch-orientalisch“ gekleidete Personen dar, wobei die Bauern als Soldaten und die Läufer als Herolde wiedergegeben sind. Der Einsatz von Kriegselefanten auf beiden Seiten lässt an einen Bezug zu den Syrischen Kriegen (192/188 v. Chr.) denken, in denen die Römer über die seleukidischen Streitmächte siegten.
Dabei nutzte der Bildhauer geschickt die durch die unterschiedliche Härte und Struktur von Elfenbein und Ebenholz vorgegebene Bearbeitungsqualität, um den weißen und schwarzen Kontrahenten ihre spezifische Expressivität zu verleihen. Ethnographisch-historische Korrektheit spielte dabei eine untergeordnete Rolle, wichtig war die dualistische Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Gruppen, die als individuelle Menschen aus europäischen und außereuropäischen Kulturen charakterisiert sind.
Auch das Spielbrett zeichnet sich durch eine hohe künstlerische Qualität aus. Dass es eigens für die Figuren geschaffen wurde, belegen die passgenau gearbeiteten vergoldeten Silbersockel. Ihre Beschau- und Meistermarken verweisen auf den Augsburger Goldschmied Paul Solanier (1635–1724). In dessen Werkstatt entstanden auch die Silbereinlagen der Spielfelder – Sterne in grün gefärbtem Elfenbein bzw. verschlungene Régence-Rahmen in Schildpatt. Mit Schildpatt wurden auch die gekehlten Seiten des hohen Brettes furniert, das mit zwei einander gegenüberliegenden Schubladen ausgestattet ist. In den darin enthaltenen Einsätzen sind für jede Figur ausgeführte Mulden eingelassen, so dass das Brett zugleich als Schatulle für die skulpturalen Kostbarkeiten fungiert.
Die schwer lesbare Inschrift auf dem Botenzettel von einem der weißen Herold-Läufer trägt den mit einer heißen Nadel in Mikroschrift ausgeführten Schriftzug „Her/mann“. Sollte dieses mit bloßem Auge kaum wahrnehmbare Detail tatsächlich als Verweis auf den Schöpfer der Figuren gelesen werden können, so würde es sich um das bisher einzig bekannte barocke Schachspiel mit einer solchen Signatur handeln. Tatsächlich stehen die Figuren stilistisch und kompositorisch Werken nahe, die für Paul Heermann – gefragter Bildhauer in Sachsen, Mitarbeiter und wohl auch Konkurrent Balthasar Permosers (1651–1732) sowie zuletzt Hofbildhauer - gesichert sind beziehungsweise ihm zugeschrieben werden.
Für die Dresdner Hofkunst des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts spielten Verbindungen nach Augsburg und die Zusammenarbeit mit dortigen Goldschmieden eine zentrale Rolle. Exemplarisch belegt dies die Jupitersäule im Grünen Gewölbe, für die Balthasar Permoser die Elfenbeingruppe schuf und Johann Andreas Thelot die Silberreliefs an dem wie beim Schachspiel mit Schildpatt verkleideten und teilweise grün gefärbten Sockel der Säule. Das Schachspiel repräsentiert nicht nur charakteristische Züge der sächsischen Hofkunst des frühen Augustäischen Zeitalters, sondern ist auch ein Beleg für die überregionale Zusammenarbeit im Bereich der Schatzkunst. Die Händler der süddeutschen Goldschmiedemetropole standen kontinuierlich mit dem sächsischen Hof in Kontakt, waren auf den Leipziger Messen präsent und pflegten beste Handelsbeziehungen nach Dresden, was letztlich die Entstehung eines komplexen Werkes wie des vorliegenden Schachspiels ermöglichen konnte.
Obwohl das Werk selbst keinerlei direkte Hinweise auf einen Adressaten preisgibt, lassen die kostbaren Materialien und der künstlerische Anspruch nicht daran zweifeln, dass es sich um ein höfisches Kabinettstück gehandelt hat, das einem fürstlichen Umfeld vorbehalten war.
Marius Winzeler, Direktor des Grünen Gewölbes und der Rüstkammer: „Mit dem Erwerb für das Grüne Gewölbe erhält das Schachspiel einen idealen Sammlungskontext und schließt zudem eine empfindliche Lücke: laut barocken Inventaren gehörten mindestens drei vergleichbare Schachspiele zur Dresdner Sammlung, die jedoch verloren gingen. Zudem finden die exquisiten Miniaturskulpturen im Bestand an Elfenbeinstatuetten des Grünen Gewölbes ein Umfeld, das für das Publikum faszinierende Vergleiche und für die Forschung neue Erkenntnisse ermöglicht.“
Martin Hoernes, Generalsekretär der Ernst von Siemens Kunststiftung: „Für das Geburtstagsfest des Grünen Gewölbe kann es nur ein einzigartiges und schon zur Entstehungszeit teures Geschenk der Ernst von Siemens Kunststiftung geben: Ein „königliches“ Schachspiel, ein Luxusobjekt aus kostbarsten Materialien und mit höchster Kunstfertigkeit hergestellt. Das neue Prunkstück ist aber nicht nur Augenschmaus für die Besucher, sondern enthält Forschungsaufträge an die Kurator*innen: Lassen sich die schwarzen und weißen Mikroskulpturen ins Werk des Dresdner Bildhauers Paul Heermann einfügen? Wer war der ursprüngliche Besitzer der Zimelie?“
Zukünftig wird das Schachspiel im Neuen Grünen Gewölbe des Dresdner Residenzschlosses ausgestellt sein und zusammen mit vergleichbaren Meisterwerken aus der Sammlung Augusts des Starken im Dinglingersaal präsentiert. Zur Provenienz: Wohl seit dem 18. Jahrhundert im Besitz der Bankiersfamilie von Münch; bis 1920 Otto von Münch, Schloss Hohenmühringen; danach Eigentum der Nachfahrenfamilie von Podewils; 2018 versteigert bei Christie’s, London; seither Galerie Kugel, Paris.