Die Stickerei und insbesondere der Kreuzstich haben in Graubünden eine grosse Tradition. Die reiche Stickerei-Sammlung im Rätischen Museum bietet Anlass, die lokale Stickerei in einem erweiterten Kontext zu betrachten. Gleichzeitig wird aus der Perspektive der zeitgenössischen Kunst die Aktualität dieser künstlerischen Praxis hervorgehoben.Die Ausstellung zeigt Stickerei aus Graubünden und stellt sie Werken von internationalen Künstlerinnen und Künstlern gegenüber. Dabei wird deutlich, dass die kunsthandwerkliche Tradition Graubündens von Anfang an aus verschiedenen Kulturen genährt war. Die traditionelle Stickerei wirft dabei Fragen auf, die sich heute vor dem Hintergrund anderer gesellschaftlicher und kultureller Erfahrungen neu stellen. Die weiblich konnotierte Handarbeit wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich aufgewertet und gefördert, gleichzeitig haben Künstlerinnen und Künstler wie Sophie Taeuber-Arp, Alice Bailly und Ernst Ludwig Kirchner wesentlich dazu beigetragen, der Kunst der Avantgarde aus dem Geist des Kunstgewerbes neue Impulse zu verleihen. Jahre später greifen Künstlerinnen und Künstler wiederum zu Nadel und Faden oder schlagen, wie Alighiero Boetti oder Susan Hefuna, mit ihren Werken Brücken über Grenzen und Kulturräume hinweg. Gegenwartskunst mit Stickerei will die traditionelle Ästhetik hinterfragen und aufbrechen. So verwendet Louise Bourgeois für ihre Werke Kleidungsstücke und macht sie zu Trägern emotionaler und psychologischer Zustände. Eliza Bennett, die in ihre eigene Hand stickt, oder Véronique Arnold, die Stickerinnen porträtiert, weisen auf die Arbeitsbedingungen in Industrie und privatem Haushalt hin. Elaine Reichek dagegen analysiert, wie der Faden als Mittel weiblicher Ermächtigung in der antiken Mythologie auftritt und wie diese Geschichten in der europäischen Malerei weiterentwickelt wurden. Dagegen hält Gözde Ilkin Figuren auf der Wanderschaft auf Leintüchern und Bettüberzügen fest und entwickelt so eindrückliche Bilder über die Suche nach dem Zuhause. So geben zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler Nadel und Faden eine neue Kraft, um die Welt von heute poetisch und gesellschaftskritisch zugleich zu imaginieren.
Die von Stephan Kunz und Susann Wintsch kuratierte Ausstellung zeigt neben der historischen Stickerei aus Graubünden Werke von Véronique Arnold (F), Latifa Attaii (AFG), Alice Bailly (CH), Eliza Bennett (GB), Alighiero Boetti (I), Louise Bourgeois (F/USA), Rehab Eldalil (EGY), Susan Hefuna (D/EGY), Gözde İlkin (TR), Ernst Ludwig Kirchner (D), Isa Melsheimer (D), Marisa Merz (I), Irene Posch (A), Elaine Reichek (USA), Jean-Frédéric Schnyder (CH), Rozita Sharafjahan (IR), Annegret Soltau (D), Sophie Taeuber-Arp (CH), wiedemann/mettler (CH), Jeanne Natalie Wintsch (POL/CH).