Susanne Gaensheimer, Direktorin der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen: „Wir freuen uns sehr, mit der Ausstellung „Hito Steyerl. I Will Survive“ im K21 erstmals in Deutschland einen umfassenden Überblick über das Werk dieser wichtigen Künstle- rin, Filmemacherin und Autorin zu präsentieren. Steyerl gehört aktuell zu den inter- national wichtigsten Positionen, wenn es um die Reflexion der gesellschaftlichen Rolle von Kunst und Museum geht, um das Experimentieren mit medialen Präsenta- tionsformen und um die kritische Auseinandersetzung mit Daten und dem Einsatz von künstlicher Intelligenz.“
Im Zentrum der Ausstellung im K21 steht eine neue, für die Ausstellung entwickelte multimediale Installation, mit der Steyerl (*1966) die Potentiale von Digitalität, Simu- lation und Künstlicher Intelligenz im Hinblick auf künstlerische Kreativität, museale Präsentationsweisen, soziale Verwerfungen und pandemische Bedingungen kritisch auslotet.
Die neue Arbeit wird in der Ausstellungshalle im Untergeschoss des K21 mit einer umfang- reichen Auswahl früherer Arbeiten Steyerls gezeigt. Neben raumgreifenden Installationen aus den vergangenen zehn Jahren (In Free Fall, 2010, Guards, 2012, How Not To Be Seen. A Fucking Didactic Educational .MovFile, 2013, Is the museum a battlefield?, 2013, Duty-Free Art, 2015, HellYeahWeFuckDie, 2016, The City of Broken Windows, 2018, This is the Future / Power Plants, 2019, Mision Accomplished: Belanciege, 2019) liegt ein Schwerpunkt auf den frühen Filmen, die kurz nach Steyerls Studium der Dokumentar- filmregie entstanden sind. Deutschland und das Ich (1994), Babenhausen (1997), Die leere Mitte (1998) und Normalität (1999) widmen sich dem wiedererstarkenden Rassismus und Nationalismus im Deutschland nach der Wiedervereinigung. Mit November (2004) und Lovely Andrea (2007) werden zwei für Steyerls Werk zentrale Filme gezeigt, in denen sich das Zirkulieren der Bilder, das Motiv des Todes (der Freundin Andrea Wolf) und die kriti- sche Hinterfragung der Tragfähigkeit des dokumentarischen Modus im Film als Kern von Steyerls filmkünstlerischem Ansatz erweisen. Steyerls Werk stellt in Theorie und Praxis einen zentralen Beitrag zum „Documentary Turn“ in der bildenden Kunst um das Jahr 2000 dar. Im Überblick der Ausstellung wird ersichtlich, wie Steyerl in den letzten dreißig Jahren die Mutation von Kamerabildern vom analogen Bild und seinen vielfältigen Monta- gen hin zum geteilten, flüssig werdenden digitalen Bild und den sich daraus ergebenden Implikationen für die Repräsentation von Kriegen, Klimawandel und Kapitalströmen verfolgt hat.
Künstlerin, Filmemacherin und Autorin Hito SteyerlSteyerls Filme sind oft von der visuellen Nervosität des Internets imprägniert. Die im World Wide Web massenhaft verbreiteten, geteilten, manipulierten und kommentierten Bilder bilden einen reichhaltigen Fundus für ihre assoziativ verfahrenden Filmcollagen, in denen unterschiedliche Bildbearbeitungen, darunter die ausgiebige Verwendung von 3D- Animationen, zum Einsatz kommen. Ein Abstand zur traditionellen dokumentarischen Filmsprache tut sich auf, den Steyerl unter dem Begriff „documentary uncertainty“ (doku- mentarische Unschärferelation) gefasst und in zahlreichen Essays und Vorträgen be- schrieben und analysiert hat. Die Absolventin der HFF München, promovierte Philosophin und Professorin für Medienkunst an der UdK Berlin greift in ihren Filmen und Texten eben- so auf historische Quellen zurück, arbeitet Walter Benjamins Geschichtsphilosophie und die „negative Dialektik“ der Frankfurter Schule als tragendes Fundament in das von ihr mitgestaltete Format des Video-Essays ein. Zu den zahlreichen, produktiv genutzten Quel- len zählen, um nur die vielleicht wichtigsten zu nennen, Theodor W. Adornos Ausführungen zum Essay als skizzenhafte, subjektive Argumentationsform, Harun Farockis Essayfilm und schließlich Jean-Luc Godards revolutionäre Filmsprache. Zitate aus der Pop Kultur von Disco-Hits über Monthy Python’s Flying Circus bis hin zum Game Design kommen hinzu. Doch bei allem Witz und Hang zum Paradoxen steht hinter Steyerls pointierten und mit einer Länge von maximal 30 Minuten eher kurzen Filmen ein kohärentes Interesse an postkolonialer Kritik, ökologischer Theorie, feministischen Ansätzen, der Kritik an Big Data und der Überwachungsindustrie, womit Steyerl selbst inzwischen einen großen Einfluss auf die künstlerische Theorie und Praxis einer jüngeren Generation ausübt.
Ein wiederum kritisches Hinterfragen der eigenen Autorenschaft zeigt sich etwa in Novem- ber (2004), wenn eine Stimme aus dem Off (Steyerl) sagt: „Nicht ich erzähle die Geschich- te, sondern sie erzählt mich“. Hier wird deutlich, dass es Steyerl um eine Geschichte des Widerstands geht, die nicht nur ihre eigene ist, sondern die einer ganzen Generation, wie Florian Ebner in der Laudatio auf die Künstlerin anlässlich der Verleihung des Käthe Koll- witzpreises in der Berliner Akademie der Künste im Februar 2019 herausgestellt hat.
Zusammenarbeit Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen und Centre Pompidou Die Ausstellung ist nicht nur Steyerls erste umfangreiche Überblicksausstellung in Deutsch- land und ihre erste große Ausstellung in Frankreich überhaupt, sie vereint gleichzeitig eine deutsch-französische Perspektive auf das Werk. In einer Zeit, in der die Kunst immer mehr Gegenstand von Investment und Spekulation wird, bestimmt und vorangetrieben von priva- ten-kommerziellen Interessen großer Galerien und mächtiger Oligarchen, erlangt der Be- griff der öffentlichen Kunst eine neue Relevanz. An diesem Punkt treffen sich der Ansatz der Künstlerin mit dem geschärften Bewusstsein für den Zusammenhalt von Öffentlichkeit und Kunst, wie ihn die beiden staatlichen Museen Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen und Centre Pompidou genuin vertreten. Nicht zuletzt ist der Antagonismus von privat und öffentlich Gegenstand von Steyerls neuer Arbeit, und vor diesem Hintergrund lässt sich die Zusammenarbeit der beiden Museen als Statement für die Kunst im Rahmen einer gesell- schaftlich verantwortlichen Kulturpolitik lesen.
Kuratorin: Doris Krystof für K21 DüsseldorfEine Zusammenarbeit der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf und dem Centre Pompidou, Musée National d’Art Moderne, Paris, gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes
Biografie Hito SteyerlHito Steyerl wurde 1966 in München geboren. Sie studierte Dokumentarfilmregie am Japan Institute of the Moving Image (ehemals Yokohama Broadcasting Technological School, die 1975 von Sohei Imamura gegründet wurde) und später an der Hochschule für Film und Fernsehen in München. Das darauf folgende Studium der Philosophie an der Akademie der Künste, Wien, schloss sie mit Promotion ab. Sie hat an der UdK, Berlin, eine Professur für Experimentalfilm und Video inne und hat dort zusammen mit Vera Tollmann und Boaz Levin das Research Center for Proxy Politics gegründet. Steyerls Werke werden seit zwanzig Jahren im Kontext der bildenden Kunst ausgestellt und international rezipiert. 2004 wurde November auf der Manifesta 5 in San Sebastian gezeigt. Mit Lovely Andrea und Red Alert wurde sie auf der Documenta 12 (2007) in Kassel einem größeren Publikum bekannt. Mit Factory of the Sun war sie 2015 im deutschen Pavillon auf der Biennale von Venedig vertreten. 2016 nahm sie mit HellYeahWeFuckDie an der Biennale von Sao Paolo teil. Zu den jüngsten der zahlreichen Einzelausstellungen in Museen und Kunstinstitutionen weltweit gehören Ausstellungen im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, Madrid (Duty-Free Art, 2016), Museum für Gegenwartskunst, Basel (War Games 2018, zusammen mit Martha Rosler), Castello di Rivoli, Turin (The City of Broken Windows, 2018), Serpenti- ne Gallery London (Power Plants, 2019), Park Avenue Armory, New York (Drill, 2019), Art Gallery of Ontario, Toronto (This is the Future, 2019). Auf der Biennale von Venedig 2019 war sie in der Hauptausstellung „May You Life in Interesting Times“ im Arsenal und in den Giardini mit mehreren Arbeiten vertreten, darunter This is the Future / Power Plants. Neben ihrer filmkünstlerischen Arbeit ist Steyerl als Autorin tätig, macht Interviews und hält Vorträ- ge. Eine Auswahl ihrer an verschiedenen Stellen publizierten Essays sind in vier Büchern zusammengefasst: Die Farbe der Wahrheit (Turia Kant, Wien 2008), The Wretched of the Screen (Sternberg Press, Berlin 2012), Beyond Representation – Jenseits der Repäsenta- tion (n.b.k., Berlin 2016), Duty Free Art – Art in the Age of Planetary Civil Wars / Kunst im Zeitalter des globalen Bürgerkriegs (en. Verso, London 2017 / dt. Diaphanes, Zürich 2018).Steyerl lebt und arbeitet in Berlin.
PublikationDie Ausstellung in Düsseldorf (26.9.2020 – 10.1.2021) und Paris (3.2. – 7.6.2021) wird von einem Buchobjekt begleitet, das die beiden Ausstellungen zu einem komplementären Diptychon zusammenfügt. Hrsg. von Florian Ebner, Susanne Gaensheimer, Doris Krystof und Marcella Lista. Mit Beiträgen von Nora M. Alter, Karen Archey, Teresa Castro, Ale- xandra Delage, Florian Ebner, Tom Holert, Doris Krystof, Marcella Lista, Vanessa Joan Müller, Florentine Muhry, Mark Terkessidis, Brian Kuan Wood und mit einem Interview von Hito Steyerl mit Trevor Paglen. Gestaltet von Fabian Bremer und Pascal Storz, Verlag: Spector Books, Leipzig. Ca. 360 S. / Preis: ca. 39 €
Podcast Kunstsammlung Nordrhein-WestfalenZur Ausstellung „Hito Steyerl“ erscheint die 2. Staffel des K2021-Podcast der Kunstsamm- lung Nordrhein-Westfalen. Insgesamt widmen sich 4 Episoden Themen der Ausstellung und lassen Expertinnen und Experten als auch die Künstlerin selbst zu Wort kommen. Die erste Folge erscheint mit Beginn der Ausstellung: Kostenfrei zum Download verfügbar überall dort, wo es Podcasts gibt sowie auf www.kunstsammlung.deHito Steyerl. I Will Survive K21 vom 26. September 2020 – 10. Januar 2021 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf
dienstags bis freitags 10.00-18.00 Uhr
samstags, sonntags, feiertags 11.00-18.00 Uhr
montags geschlossen
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