Innsbruck, am 12. Dezember 2019 – Vergessen gehört zum Alltag. Doch nicht nur auf individueller Ebene, auch für Kultur und Gesellschaft ist es relevant. Welche Werke, Perspektiven und Informationen aufbewahrt – und welche vergessen werden, entscheiden seit mehreren hundert Jahren Gedächtnisinstitutionen wie die Tiroler Landesmuseen. Die politische und gesellschaftliche Macht dieses Prozesses wird in der Sonderausstellung beleuchtet. In rund 8.000 Archivschachteln sind herausragende zeitgenössische Kunst und handgedruckte literarische Texte eingebettet, die die Besucherinnen und Besucher nicht so schnell vergessen werden.Pro Sekunde strömen mehrere Millionen Sinneseindrücke auf uns ein. Die Informationen werden aufgenommen, selektiert – und zum Großteil wieder vergessen. Dieser natürliche Prozess schützt vor Überlastung und Überforderung. Im Alltag entscheidet jeder und jede für sich, was wichtig und was unwichtig ist. Gesamtgesellschaftlich übernehmen das Institutionen für viele Informationen, Werke und Perspektiven. Über die individuelle Ebene hinaus besitzt dieser Prozess daher auch eine kulturgeschichtlich relevante Komponente, was häufig übersehen wird.
„Als ein ‚Gedächtnis Tirols‘ übernehmen wir seit mehreren hundert Jahren für viele Werke und Positionen der Tiroler Kunst- und Kulturszene die Entscheidung, was bedeutsam ist und was nicht“, so Direktor Mag. Dr. Peter Assmann. „Als Gedächtnis, so meint man oft, archivieren wir alles. Doch daran scheitern wir täglich, eine vollständige Archivierung ist nicht möglich. Wir entscheiden, was aufbewahrt und was schlichtweg vergessen wird. Diesen Prozess möchten wir in der Sonderausstellung reflektieren.“ Die Kuratorinnen und Kuratoren der Tiroler Landesmuseen gehen achtsam mit dieser politischen und gesellschaftlichen Macht um, dennoch treffen sie subjektive Entscheidungen mit gesamtgesellschaftlicher Relevanz.
Kunst und Literatur öffnen neue DenkräumeWährend einige alte Objekte in der heutigen Gesellschaft mit Vintage- und Recycling-Kultur durchaus eine Renaissance erleben und vor dem Vergessen gewahrt sind, geraten viele andere für immer in Vergessenheit. Objekte wie der Handschuhspreizer oder der Tabakschneider werden nicht mehr gebraucht und entfernen sich nach und nach aus dem Repertoire. Worte, Bräuche und Funktionen werden vergessen. Was das kulturgeschichtlich bedeutet und welche Zusammenhänge verloren gehen, wird in der Sonderausstellung unter anderem hinterfragt. Der Bogen wird von persönlichen Erfahrungen mit dem Vergessen bis zur Denkmal- und Erinnerungskultur gespannt. Geschichtliche Epochen, die niemals vergessen werden dürfen, finden ebenfalls einen Platz. Ein sogenannter Giftschrank der Bibliothek, der früher zensurierte Inhalte politischer oder etwa auch pornographischer Natur aufbewahrte, verweist auf aufgezwungenes Vergessen durch Zensur. Die Bedeutung von Depots wird beleuchtet, in der Archäologie wird ehemals Vergessenes – bzw. Verschüttetes – präsentiert.
Anstatt die zeitgenössische Kunst zu interpretieren und zu erklären, wird sie gemeinsam mit literarischen Texten gezeigt. „In der Gegenüberstellung von zeitgenössischen künstlerischen Positionen mit literarischen Texten werden Denkräume eröffnet, die zur Auseinandersetzung mit diesem Thema einladen. Schicht für Schicht soll Verdecktes so freigelegt, Überschriebenes sichtbar gemacht werden“, so Kurator Mag. Roland Sila. 25 Textplakate wurden mit einer Handpresse in Südtirol eigens für die Ausstellung gedruckt, bis zu 18 Arbeitsschritte beinhaltete die Produktion jedes dieser hochwertigen Exemplare.
Digitale Spuren hinterlassenUm das Vergessen in der heutigen digitalen Gegenwart zu erleben, werden die Besucherinnen und Besucher eingeladen, beim Betreten der Ausstellung digitale Spuren zu hinterlassen, die kurz darauf wieder verschwinden. Die Installation geht der Frage nach dem Recht auf Vergessen nach. In einem Zeitalter, in dem Speichermedien mit mehreren Gigabyte oder gar Terabyte in der Hosentasche verstaut oder riesige Mengen an Daten in digitalen Clouds aufbewahrt werden, scheint es, dass Vergessen unmöglich wird. Dass dem nicht so ist und wo die digitale Aufbewahrung an ihre Grenzen stößt, diskutiert die Sonderausstellung ebenfalls.
Außerdem dürfen sich Interessierte in eine Virtual Reality versetzen lassen. In dieser digital konstruierten Realität steht im Fokus, wie kurzlebig die Wirklichkeit sein kann. Scheinbar leere Räume werden in Sekundenschnelle über ein Tablet mit Inhalten gefüllt, die anschließend wieder verschwinden.
Nachhaltige Ausstellungsarchitektur und Katalog Die Ausstellungsarchitektur schafft eine Durchsichtigkeit, die auf unsere lückenhafte Wahrnehmung Bezug nimmt und greift somit aktiv in die Gestaltung der Ausstellung ein. Rund 8.000 Archivschachteln wurden für die Ausstellung gefaltet, im Anschluss an die Sonderausstellung kann der Großteil weiterverwendet werden. Somit wird der Abfall, der durch Ausstellungsarchitektur anfallen kann, erheblich reduziert – ein wichtiger Schritt im Sinne der Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung. Zudem wurde der Begleitkatalog zur Ausstellung klimaneutral und umweltschonend ohne Lösungsmittel und Chemikalien, dafür mit organischen Leimen und umweltschonendem Papier produziert. Das Resultat könnte daher sogar kompostiert werden.