Die „Midgard“ stand am Beginn der Verbreitung eines Typus, für den Unternehmen wie AEG, Körting & Mathiesen (Kandem), Gebr. Kaiser (Kaiser idell), SIS Schweinfurt und Siemens eigene Lösungen entwickelten. Später schufen Firmen wie Artemide, Belux, Erco und Nimbus Modelle, die Konstruktion und Design auf neue Weise integrierten. Zuvor, in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren, entdeckte die gestalterische Avantgarde am Bauhaus das blendfreie, frei bewegliche Licht bereits für sich. Midgard-Modelle beleuchteten Ateliers und Wohnbereiche in Dessau, bevor dort eigene Entwürfe entstanden. Zu DDR-Zeiten produzierte die Firma aus dem thüringischen Auma ihre Federzugleuchte sogar für Ikea. In der Designgeschichtsschreibung war die „Midgard“ nur Expert*innen bekannt. Obwohl in zahlreichen Interieurs der Moderne eingesetzt war sie nach dem Mauerbau als DDR-Produkt im Westen nicht mehr als Marke präsent. Aufgrund ihrer Flexibilität und ihres Industriecharmes ist ihre Faszination noch immer ungebrochen. Heute überzeugt sie wieder am Arbeitsplatz, im Büro, im Coworking-Space, in der Hotel-Lobby oder im Wohnbereich, am multifunktionalen Küchentisch und am Sofa mit Laptop-Ablage.
1919 war das Jahr des Umbruchs und der sozialen und politischen Erneuerung. Elektrizität und elektrische Beleuchtung drangen in die Fabriken und Wohnungen vor, im nahen Weimar wurde das Bauhaus gegründet. Curt Fischer ließ in diesem Jahr seine berühmte Scherenleuchte, auch „Lichtbogen“ oder „verstellbarer Wandarm“ genannt, patentieren. Aus der Notwendigkeit, Arbeitsplätze in der eigenen Fabrik angemessen zu beleuchten, entwickelte er „Spezialbeleuchtungsgeräte“, Leuchten mit großer Beweglichkeit und vielseitiger Verwendung. Die Ausstellung zeigt zahlreiche frühe Entwürfe Fischers, darunter auch seine bekanntesten wie das Modell Nr. 113, das auf Grund seines gebogenen Stabs auch als „Peitsche” bezeichnet wurde, sowie das Modell Nr. 114, das besonders weit verbreitet war.
Gestalter*innen und Künstler*innen am Bauhaus wie Marianne Brandt, Marcel Breuer, Lyonel Feininger, Walter Gropius und Laszlo Moholy-Nagy waren begeistert von Fischers „Spezialbeleuchtungsgeräten“. Aber auch Architekt*innen wie Egon Eiermann, Gustav Hassenpflug, Cäsar Pinnau und Sep Ruf diente die „Midgard“ als Arbeitsgerät, mitunter auch als Einrichtungsgegenstand. Der Typograf Jan Tschichold besaß eine besondere Version, die eigentlich für Zahnärzt*innen konzipiert war. Dank eines erhaltenen Briefwechsels zwischen Walter Gropius und Curt Fischer konnten Midgard-Leuchten inzwischen auf zahlreichen historischen Fotografien identifiziert werden. In modernen Interieurs hatte die „Midgard“ als modernes Lichtgerät einen festen Platz: So waren das Planungsbüro am Bauhaus wie auch der dort entworfene Lesesaal der Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) mit dem Modell Nr. 113 ausgestattet. Ludwig Mies van der Rohe nutzte sie in seinem Büro, Marcel Breuer stattete etliche Wohnungen mit der Lenkleuchte aus. Beruhend auf früheren Entwürfen entwickelte Fischer um 1930 ein modulares Leuchtensystem, dessen wartungsfreie Gelenke er ebenfalls patentieren ließ.
Nachdem der Brite George Carwardine 1933 mit Terry & Sons, einem Produzenten von Federn für Auto-Stoßdämpfer, mit „Angelpoise“ die erste Arbeitsleuchte mit Zugfedern auf den Markt brachte, etablierte sich bald ein neuer, kostengünstiger Leuchtentypus. Dies inspirierte Curt Fischer in den frühen 1950er Jahren zu einer eigenen Federzugleuchte, die bald darauf ein wichtiger DDR-Exportartikel wurde. Sein Sohn Wolfgang übernahm nach dessen Tod 1956 die Firma. 1992 berichtete er in einem Interview, die Federzugleuchte sei das Überbleibsel von einst rund 120 Midgard-Modellen. Zudem habe man sie weit unter den Kosten in westeuropäische Länder verkauft, Hauptabnehmer war Ikea. Parallel entwickelten ost- und westdeutsche Hersteller die lenkbare Leuchte weiter. Technische Neuerungen wie das Halogen-Licht, bei Autoscheinwerfern erprobt, ermöglichten ab den 1970er Jahren, die Stromzufuhr und -verteilung in der Leuchte neu zu organisieren. Einen Umbruch im Design markierte Richard Sapper 1972 mit der Niedervolt-Leuchte „Tizio“. 1986 entwarfen Michele De Lucchi und Giancarlo Fassina für die Firma Artemide die „Tolomeo“, deren Federn unsichtbar im Inneren der Konstruktion befestigt sind.
Wolfgang Fischer blieb nach der vollständigen Enteignung des DDR-Regimes 1972 Betriebsleiter und erneuerte mehrmals den Patent- und Markenschutz. 1990 wurde ihm die Firma rückübertragen und die Marke Midgard damit wieder präsent. Zwei Jahre später brachte Wolfgang Fischer eine kompakte Maschinenleuchte mit Halogentechnik auf den Markt. Seine Stieftochter Anja Specht organisierte die Produktion unter erschwerten Wettbewerbsbedingungen: Sie unternahm erste Schritte, um die Firma Midgard auch im Designumfeld wieder sichtbar zu machen. Zudem sicherte sie die Archivalien der Gründungszeit und legte so die Grundlagen für heutige historische Recherchen und Darstellungen. 2015 übernahmen Joke Rasch und David Einsiedler Unternehmen, Rechte, Originalwerkzeuge und Firmenarchiv mit hunderten Originalzeichnungen von Curt Fischer, Fotos, Briefen, Urkunden und weiteren Dokumenten und verlegten die Produktion von Auma nach Hamburg. Hier wurde die Fertigungsstrecke von Grund auf neu eingerichtet, modernisiert und unter Verwendung von originalen Werkzeugen und Maschinen wieder in Betrieb genommen. Seit 2017 produzieren sie unter anderem die Federzugleuchte und Pendelleuchte K831. Das am Bauhaus verbreitete Modell Nr. 113 wird aktuell in einer limitierten Edition neu aufgelegt und soll danach in Serie gehen.
Konzipiert wurde die Ausstellung von dem Journalisten Thomas Edelmann.
Die Ausstellung wird ermöglicht mit der freundlichen Unterstützung von Thonet GmbH und Midgard Licht GmbH.
Öffnungszeiten: Di-So 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr | Eintritt: 12 € / 8 €, Do ab 17 Uhr 8 €, bis 17 J. frei
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