Die umfassende Gruppenausstellung präsentiert die legendären Gründungsjahre (1970-1980) der amerikanischen Kunsthochschule »California Institute of the Arts« (CalArts), die zahlreiche bekannte Künstlerinnen und Künstler hervorgebracht hat. Die Ausstellung mit dem Titel »Wo Kunst geschehen kann. Die frühen Jahre des CalArts« eröffnet eine multiperspektivische Sicht auf die Schule: Parallel existierende Strömungen aus dem Umfeld der Konzeptkunst, des Feminismus und des Fluxus sowie die radikalen pädagogischen Konzepte der Schule werden in der Ausstellung erstmals vereint. Die Ausstellung wurde kuratiert von Dr. Philipp Kaiser (Künstlerischer Leiter der Marian Goodman Gallery, New York) und Christina Végh (Direktorin der Kestner Gesellschaft). Von März bis Mai 2020 wird die Gruppenschau im Kunsthaus Graz gezeigt. Eine weitere Station in Los Angeles ist in Planung.
Die Kunsthochschule in Los Angeles – ein radikales Schulmodell1970 öffnete die von Walt Disney gegründete Kunsthochschule CalArts bei Los Angeles (Kalifornien, USA) ihre Türen. CalArts entwickelte in den ersten Jahren ein radikales, wegweisendes Schulmodell, das in seiner Interdisziplinarität an europäische und US-amerikanische Vorgängermodelle wie dem Bauhaus und dem Black Mountain College anknüpfte, das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden egalisierte und ohne Benotungssystem auskam. Mit der institutionellen Etablierung konzeptueller und feministischer Konzepte an den Lehrstühlen »Post-Studio« von John Baldessari und »Feminist Art Program« von Miriam Schapiro und Judy Chicago hat CalArts eine Vorreiterrolle eingenommen. Im Zentrum der künstlerischen Auseinandersetzung standen schon damals aktuelle gesellschaftliche Themen wie das Hinterfragen von Autorenschaft, die Flexibilisierung von künstlerischen Arbeitsweisen oder die Kritik an patriarchalen Machtstrukturen.
Die Ausstellung in der Kestner Gesellschaft»Wo Kunst geschehen kann. Die frühen Jahre des CalArts« widmet sich den ersten 10 Jahren der Kunsthochschule und führt erstmalig die dort vertretenen Lehrkonzepte mit den daraus entwickelten künstlerischen Praktiken in einer Gruppenschau zusammen. Gezeigt werden ca. 100 Werke von rund 40 Künstler*innen, darunter Arbeiten, die zum ersten Mal einer Öffentlichkeit präsentiert werden. 
Die historisch angelegte Ausstellung zeichnet verschiedene Situationen nach, in denen Kunst entstehen kann. Ganz im Sinne von John Baldessari, der als einer der prägenden Lehrer die Auffassung verfolgte, dass Kunst nicht lehrbar sei, sondern es darum ginge, Situationen zu schaffen »where art might happen«, wie er 1992 in einem Interview äußerte. Beleuchtet werden unter anderem Schlüsselfiguren wie Allan Kaprow, John Baldessari sowie Judy Chicago und Miriam Schapiro und ihre tragenden Ideen des Fluxus, der Konzeptkunst und des Feminismus.
Neben Kunstwerken und wissenschaftlich aufbereitetem Archivmaterial wurden eigens für die Ausstellung Oral-History-Interviews mit 13 Künstler*innen des CalArts gefilmt, die als Zeitzeug*innen individuelle Einblicke auf die damalige Situation geben. Auf diese Weise werden erstmals die Lehrmethoden, der historische Kontext und die interdisziplinären Zusammenhänge zwischen den künstlerischen Praktiken in einer Ausstellung sichtbar. Den Zeitgeist der 1970er Jahre vermitteln auch Erzählungen von legendären Pool-Partys, Lehrveranstaltungen wie »Advanced Drug Research« und dem Verzicht auf Noten und Lehrpläne im Schulalltag. Darüber hinaus legen die Interviews die Spannbreite persönlicher und zwischenmenschlicher Details offen.
Die kunsthistorische Rezeption des CalArts fiel bislang verhältnismäßig einseitig aus. So fehlte bisher der umfängliche Blick auf die parallel existierenden Strömungen. Die Besonderheit der Ausstellung in der Kestner Gesellschaft liegt darin, die unterschiedlichen Ansätze aus den Bereichen Konzeptkunst, feministische Kunst, Fluxus und Malerei, die es am CalArts zur gleichen Zeit gegeben hat, zu vereinen und dadurch neu zu verorten.
John Baldessaris legendäre Post-Studio-Klasse war primär durch konzeptuelle Ansätze und den Einsatz von neuester Technik wie Super-8-Kameras, Portapaks (die erste batteriebetriebene, mobile Filmkamera) und Fotoapparaten geprägt. Baldessaris Lehre brachte eine erste Generation von Schüler*innen hervor, die in kürzester Zeit internationale Bekanntheit erlangte – darunter beispielsweise Barbara Bloom, Troy Brauntuch, Jack Goldstein, Matt Mullican, David Salle oder James Welling. In einem Klima absoluter künstlerischer Freiheit etablierte sich mit Lehrenden wie Michael Asher und Douglas Huebler, Stephen Prina und Christopher Williams eine zweite Post-Studio-Generation, die eine rigidere Form der Konzeptkunst verfolgt. Die Frage nach der bildnerischen Repräsentation im medialen Bilderfluss ist innerhalb der unterschiedlichen künstlerischen Ansätze ein Leitmotiv.
Ein weiterer Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf dem von Judy Chicago und Miriam Schapiro 1971 gegründeten »Feminist Art Program« (FAP). In unterschiedlichen Herangehensweisen und Medien fokussieren sich die feministischen Künstlerinnen am CalArts auf die Rolle der Frau in der Gesellschaft, ihre Rechte oder ihre mediale Repräsentation, die Auseinandersetzung mit dem Körper sowie die Suche nach einer weiblichen Perspektive. Diese Suche fand nicht zuletzt in den sogenannten »Consciousness- Raising Sessions« statt – es handelte sich um Begegnungsgruppen, in denen die persönlichen Erfahrungen der Frauen wie zum Beispiel sexueller Missbrauch und strukturelle Unterdrückung sichtbar gemacht wurden und als Grundlage für künstlerische Arbeiten dienten. Das in diesem Zusammenhang entstandene »Womanhouse« stellt einen Meilenstein in der feministischen Kunstgeschichte dar: 27 Künstlerinnen – darunter Mira Schor und Faith Wilding – bauten ein zum Abriss bereites Haus zu einem temporären Environment um, das im Februar 1972 der Öffentlichkeit präsentiert wurde. metaLAB (at) Harvard entwirft ein experimentelles Display, das »Womanhouse« in der Ausstellung repräsentiert. Darüber hinaus werden Arbeiten von Susanne Lacy und der deutschen Künstlerin Ulrike Rosenbach gezeigt.
Verschiedene Ausdrucksformen wie konkrete Poesie, Happening und Performance standen im Zentrum der pädagogischen und künstlerischen Aktivitäten von Dozent*innen aus dem Umfeld des Fluxus wie Allan Kaprow, Simone Forti, Alison Knowles oder Emmett Williams.  Die Ausstellung macht deutlich, dass innerhalb der unterschiedlichen Ansätzen am CalArts medienübergreifende, interdisziplinärer Formate besonders stark vertreten waren. Selbst malerische Positionen haben im weitesten Sinne Elemente aufgenommen, die in Film und Performance eine Rolle spielen, wie an den Arbeiten von u.a. Eric Fischl und Ross Bleckner, Lari Pittman oder Mira Schor zu sehen ist.
Die Interdisziplinarität der Schule wird in verschiedenen künstlerischen Praktiken deutlich. Diese Verbindung zwischen Post-Studio und Fluxus wurde durch Schlüsselfiguren wie Wolfgang Stoerchle mit seinen konzeptuellen Video- und Performancearbeiten und Stephan von Huene mit seinen kinetischen Klangskulpturen geprägt. Bezüge sowohl zum Umfeld des Post-Studio als auch des Feminist Art Programs findet man in den Werkansätzen der Künstler*innen wie Ericka Beckman, Mike Kelley, Jim Shaw, Tony Oursler und Carrie Mae Weems.
Das Ausstellungs- und ForschungsprojektDie Ausstellung »Wo Kunst geschehen kann. Die frühen Jahre des CalArts« entsteht im Rahmen eines dreijährigen Forschungsprojekts in Kooperation mit der Freien Universität Berlin (Prof. Dr. Annette Jael Lehmann) und metaLAB (at) Harvard, Boston (Prof. Dr. Jeffrey Schnapp, Kim Albrecht) sowie in Zusammenarbeit mit IMAGE und CONTENT, Zürich (Reto Caduff, Dokumentarfilmer). Die Ausstellung wurde unterstützt durch die wissenschaftliche Mitarbeit von Verena Kittel und die kuratorische Assistenz von Julika Bosch. Gefördert wird das Ausstellungs- und Forschungsprojekt von der Kulturstiftung des Bundes, der VolkswagenStiftung und der Stiftung Niedersachsen.
Annette Jael Lehmann, Professorin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, gibt gemeinsam mit Studierenden ihrer Masterseminare eine Publikation mit dem Titel »Tacit Knowledge. Post Studio/Feminism – CalArts (1970–1977)« heraus, die bei Spector Books erscheint. Höhepunkt der Zusammenarbeit mit der Freien Universität Berlin ist ein öffentliches Symposium, das am Samstag, den 26. Oktober 2019 im Schloss Herrenhausen in Hannover stattfindet. Sprecher*innen u.a.: Kim Albrecht, Amelia Jones, Benjamin Meyer-Krahmer, Jeffrey Schnapp, Beate Söntgen, Wolfgang Ullrich und Eyal Weizman.
Die Ausstellung wird von einem umfangreichen Katalog begleitet, der Aufsätze unter anderem von Géraldine Gourbe, Thomas Lawson, Annette Jael Lehmann, Glenn Phillips, Janet Sarbanes sowie den Herausgeber*innen des Buches Philipp Kaiser und Christina Végh enthält. Der in einer deutschen und einer englischen Ausgabe geplante Katalog erscheint im Verlag Prestel / Prestel DelMonico.
Öffnungszeiten/Eintrittspreise:Donnerstag-Sonntag 14.00-19.00 UhrEintritt 3€ / Ermäßigt 1€ / Mitglieder frei
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