Aus der Frühzeit des Stadtmuseums Dresden sind nur wenige geschlossene Sammlungen überliefert. Schon deshalb ist ein nahezu vollständig erhaltener Bestand von etwa 2.700 Porträtfotografien auf 2.100 Trägerkartons von besonderer Bedeutung. Initiator war der Historiker, Stadtarchivar und Stadtbibliotheksleiter Otto Richter (1852-1922), seit Gründung des Museums 1891 bis zu seinem Ruhestand 1912 dessen Direktor. Er trug Bildnisse bedeutenderer Bürger (und auch einiger Bürgerinnen) zu einer fotografischen Ehrengalerie zusammen, die – anspruchsvoll gestaltet –, deren Gedächtnis in der Stadt aufrechterhalten sollte. Dabei nivellieren die sorgfältige Gestaltung der Tafeln und die Ordnung zu einer alphabetischen Kartei die Rangunterschiede der Porträtierten. In diesem System erscheint das Individuelle aufgehoben in einer Gesellschaft von Gleichen. Die etwas mehr als 600 von Richter selbst beschrifteten Tafeln bilden den Kernbestand dieser Sammlung, die nach seinem Übergang in den Ruhestand unter anderen Gesichtspunkten erweitert worden ist.Die Sicherung, Erschließung und Erforschung dieser bedeutenden Quelle der Stadtgeschichte wird seit einigen Jahren verfolgt. So konnten alle Vorder- und Rückseiten der Tafeln mit Unterstützung der Sächsischen Landesstelle für Museumswesen digitalisiert und eine Datenbank aufgebaut werden, die die relevanten Angaben zu den Bildern und Dargestellten enthält. Seit Ende 2016 haben der Historiker Holger Starke und der Fotohistoriker Wolfgang Hesse eine Ausstellung vorbereitet, die von einer umfangreichen Buchpublikation begleitet ist, während alle Porträttafeln bereits in der Online-Datenbank unter www.stadtmuseum-dresden.de/portraits veröffentlicht worden sind.
In der Ausstellung und dem Begleitbuch haben die Kuratoren bzw. die Autoren den tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel in der Stadt in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts untersucht. In der Sammlung von Porträtfotografien – einem auf den ersten Blick überraschenden Gegenstand – zeigen sich nämlich die sozioökonomischen und kulturellen Veränderungen bis zum Untergang des Kaiserreichs am Ende des Ersten Weltkrieges. Die fortschrittsbewusste Selbstrepräsentation des Bürgertums im Porträt gehörte ebenso hierzu wie die Sammlung der Abbilder im Stadtmuseum als einem öffentlichen Ort der Verständigung über die Herkunft und die Gegenwart des Gemeinwesens. Ungeachtet solcher anschaulichen Vergegenständlichung von Historizität ist die Porträtsammlung jedoch bislang nur als Ressource zur Illustration stadt- und personengeschichtlicher Darstellungen genutzt worden. Dies geschah zudem, ohne dass die Provenienz der Bilder geklärt, deren Formen untersucht oder ihre Ordnung beschrieben worden wären. Kurzum: Die Erforschung und Präsentation der Sammlung schließt eine geräumige Lücke in der Kulturgeschichte Dresdens.
Nach dem Einzug des Stadtmuseums in Räume um den Lichthof des 1905/10 errichteten Neuen Rathauses feierten die Porträttafeln als Bilderchronik der Stadtgeschichte neben Objekten aller Art aus allen Zeiten das bürgerliche Dresden. Sie würdigten – wenn auch nicht öffentlich ausgestellt – die Dargestellten in der tradierten Form gestochener oder lithografierter Galeriewerke als Wegbereiter der modernen Gegenwart. Der Schöpfer der Sammlung, Otto Richter, hat mit dieser Porträtsammlung nichts weniger als das Bild Dresdens als einer Kulturstadt entworfen, die sich zugleich ihrer Geschichte erinnert wie auch der Moderne offensteht. Damit zeigt sich die Sammlung als Zeugnis der sozialen Einpassung wie der Hoffnung auf stabile gesellschaftliche Entwicklung nach ungebrochen gültigen Regeln. Sie ist Ausweis und Vorbild bürgerlicher Tugenden, ein kollektives Denkmal von „Geschichte“ als Selbstvergewisserung in unruhigen Zeiten: ein Museum im Museum.
Der medienorientierte, über schriftquellengestützte Forschung hinausgehende Zugang zur Erforschung und Darstellung von Stadt-geschichte, der hier beschritten worden ist, hat neue zeitspezifische Erkenntnisse ermöglicht. Die Stadt- wie auch die Museumsgeschichte als deren Teil wurde hier im Zusammenhang mit den Modernisierungs-prozessen seit den 1880er Jahren begriffen, die in das heutige, von Bildern bestimmte Zeitalter einmündeten.
In der Ausstellung befinden sich 102 Porträttafeln und 27 dazugehörige Komplementärobjekte.