Politische und gesellschaftliche Konflikte zu dokumentieren gehört seit jeher zu den zentralen Aufgaben von Fotografie. Die neu eingerichtete Präsentation aus den Sammlungsbeständen widmet sich der künstlerischen Auseinandersetzung mit Krieg und Vertreibung sowie Entwurzelung und Flucht. Die ausgestellten Künstlerinnen und Künstler entwickeln ihre Arbeiten aus der Beschäftigung mit den noch immer nachwirkenden Folgen des 2. Weltkriegs. Sie fokussieren ihren Blick jedoch auch auf die Konflikte zwischen der sogenannten Ersten und der Dritten Welt, sei es entlang des amerikanisch-mexikanischen Grenzzauns oder an den europäischen Außengrenzen. Ihre vielschichtigen visuellen Erzählungen gehen von konkreten Ereignissen aus, deren historische Überlieferung und gesellschaftliche Relevanz sie kritisch reflektieren. Den Bildern der Medien wie den offiziellen Verlautbarungen setzen sie eine andere, aus der persönlichen Perspektive gewonnene Lesart entgegen.Zu den ausgestellten Werken:In der als 124-teilige Serie angelegten Arbeit »There and Gone« (Dort und Fort) entwickelt John Gossage (*1946, New York City) in drei Kapiteln einen fotografischen Essay über das zwischen den USA und Mexiko liegende Grenzgebiet. Von US-amerikanischer Seite aus betrachtet, zeigt er schemenhaft Menschen am Strand von Tijuana, das Bildmaterial wurde mit Teleobjektiven aufgenommen oder stammte aus Überwachungskameras. Im zweiten Kapitel »Spurenlesen« dokumentiert er in präzisen Ausschnitten das Niemandsland des durch einen Zaun gesicherten Grenzstreifens mit ausgetretenen Pfaden, Verstecken und illegalen Durchbrüchen. Das letzte Kapitel verbindet Detailansichten aus dem kalifornischen Alltagsleben mit Begriffen, wie sie auf mexikanischen Lotteriekarten zu finden sind, ohne dass sich zwischen Bild und Text ein unmittelbarer Sinnzusammenhang herstellen lässt.
Eva Leitolf (*1966, Würzburg) untersucht in der Serie »Postcards from Europe«, die sich seit 2006 als work in progress fortschreibt, das Verhältnis Europas zu seinen Außengrenzen und dem zunehmenden Strom von Flüchtlingen. Nicht das vielfach dokumentierte Leid der Migranten, sondern der gesellschaftliche und politische Umgang mit ihnen steht im Mittelpunkt. Die dargestellten Orte sind Schauplätze von Konflikten, die sich hier abgespielt haben, bevor die Künstlerin sie aufgesucht hat. Die in den Fotografien nur andeutungsweise sichtbaren Spuren von Ausgrenzung, Gewalt und Elend nehmen durch sachliche, auf Fakten gestützte Texte, die in Form von Postkarten mitgenommen werden können, konkret Gestalt an und verschränken Bild und Text zu einer gleichermaßen bedrückenden wie aufrüttelnden Zeitstudie.
In Form eines fotografischen Re-Enactements zeigt Jeff Wall (*1946, Vancouver) einen aus Anatolien stammenden jungen Mann, den er kurz zuvor kennengelernt hatte. Seine nachträglich in Szene gesetzte Ankunft ereignet sich in Mahmutbey, einen durch monotone Ansiedlungen und ausufernde Gewerbegebiete stark expandieren Vorort von Istanbul. Mahmutbey erscheint weder urban noch dörflich, sondern wie ein Transitraum, der weder Orientierung noch Halt bietet. Die gewählte Ansicht öffnet den Blick in die Ferne, nicht aber zu dem Ort, der Ziel der Reise ist.
Roy Arden (*1957, Vancouver) widmet die Serie »Abjection« (Unterwürfigkeit) dem lange in der kanadischen Geschichte verdrängten Thema der Enteignung, Internierung und zeitweisen Deportation der japanisch-stämmigen Bevölkerung nach dem Angriff Japans auf Pearl Harbor im Dezember 1941. Aufnahmen von beschlagnahmten Automobilen, die in einem Freizeitpark abgegeben werden mussten, sind eingerahmt von Darstellungen eingesperrt wirkender, sich unterwürfig und ergebend bewegender Asiatinnen. Die historischen Zeitungsaufnahmen werden in der vertikalen Bildkomposition jeweils von schwarzen monochromen Flächen dominiert, die stellvertretend für das gelesen werden können, was nicht als Bild überliefert ist.
Die beiden auf Dokumentenpapier vergrößerten Aufnahmen zeigen den Blick in das Dachbodenatelier von Anselm Kiefer (*1945, Donaueschingen). Erst bei genauerer Betrachtung sind auf dem sandigen Boden kleine Figuren und Modelle zu erkennen. Es handelt sich um Panzer und Soldaten, die Szenerie erinnert an die Versuchsanordnung einer Schlacht oder eines Angriffs. Während über einer Aufreihung von Soldaten eine Dreieinigkeit aus Modellstühlen schwebt, zeigt das zweite Bild unvermittelt herabhängende Seile, die wie gekappt scheinen. Kiefer verwendete diese und weitere Fotografien, die er teils mit Sand und Öl überarbeitete, in seinen 1976 erschienenen Künstlerbüchern mit dem Titel »Märkischer Sand«. Sie nehmen Bezug auf die deutsche Geschichte, auf Krieg und Verwüstung.
»Waffenruhe«, ein Buch- und Ausstellungsprojekt, das rund 50 Bilder umfasst, kann als eine Art mentaler Zustandsbericht gelesen werden, ins Bild gesetzt anhand von Aufnahmen, die Michael Schmidt (1945-2014, Berlin) in den 1980er-Jahren im Westteil Berlins geschaffen hat. Kein funktionierendes Stadtgefüge mehr, sondern nur noch Fragment einer einstigen Metropole, durch die Mauer von der westlichen Welt wie vom Ostteil abgetrennt, als kapitalistischer Outpost wie ein dahinsiechender Patient am Tropf bundesdeutscher Zuschüsse hängend hatte sich in Berlin eine streitbare Subkultur entwickelt, von einer radikalisierten Hausbesetzer-Szene bis hin zur Punk-Bewegung. Obwohl in einer Vielzahl der Bilder die Mauer erkennbar ist, geht es nicht um eine Dokumentation der geteilten Stadt, sondern um eine Analyse, in der Trauer, Verlust, Schmerz und Widerstand auf verstörende Weise unvermittelt aufeinandertreffen.
Kuratorin: Dr. Inka Graeve Ingelmann, Sammlung Fotografie und Neue Medien