In Zusammenarbeit mit dem Kunstverein in Hamburg und de Vleeshal in Middelburg Lili Reynaud-Dewar (La Rochelle, Frankreich 1975, lebt in Paris und Grenoble) eröffnet das Ausstellungsjahr 2017 im Museion. Als eine der herausragenden Stimmen weiblicher Gegenwartskunst hat Lili Reynaud-Dewar ein komplexes Werk entwickelt, das um die Begriffe der kulturellen, sozialen und auch emotionalen Identität kreist, wobei sie auf verschiedene künstlerische und gesellschaftliche Freiheitsbewegungen und Subkulturen des 20. Jahrhunderts zurückgreift. Das Museion zeigt die erste Einzelausstellung dieser Künstlerin in Italien.Auf Einladung des Gastkurators Pierre Bal-Blanc drehte sie 2014 für das Museion das Video „Live Through That ?!“, in dem sie nackt durch die leeren Räume tanzte. Diese Arbeit ist bis zum 17. September 2017 im Rahmen der Ausstellung „Die Macht der Fotografie“ zu sehen, die fotografische Arbeiten aus der Sammlung Museion vorstellt. Die neue Ausstellung fügt sich in eine Reihe von Einzelausstellungen ein, mit der das Museion Künstlerinnen vorgestellt hat, die sich in ihrem Werk traditionellen Rastern und Systemen entziehen - von VALIE EXPORT bis Teresa Margolles und Monica Bonvicini, von Rosemarie Trockel bis Isa Genzken und Rossella Biscotti.
TEETH, GUMS, MACHINES, FUTURE, SOCIETY bespielt den weitläufigen Raum im vierten Stock des Hauses. Zwischen Science-Fiction und Rap-Musik, aufwändiger Inszenierung und Un-Ordnung präsentiert sich die Ausstellung als eine einzige große Installation, die sich aus Elementen wie Videos, Filmen, Paneelen und Objekten zusammensetzt. Das Ganze kreist um zwei miteinander verknüpfte thematische Schwerpunkte. Auf der einen Seite sind das die so genannten Grills, aus Edelmetallen gefertigter Zahnschmuck der in der Rap- und Hip-Hop-Kultur die Funktion von Statussymbolen einnimmt und den die Künstlerin hier provokativ vereinnahmt. Die mit den Grills vorgenommene Manipulation des Körpers verweist auf das zweite tragende Element der Ausstellung, das Cyborg Manifesto der Feministin Donna Haraway. Der 1985 publizierte Essay drückt den Wunsch nach der Überwindung eines binären und anhand von Gegensätzen wie Natur/Kultur, Wahrheit/Illusion, richtig/falsch, Mann/Frau oder Ich/andere ausgerichteten Denkens aus und plädiert für eine diskriminierungsfreie Zukunft. Zur der Ausstellung gehört auch ein neues Video, das die Künstlerin zu diesem Ablass in Bozen produziert hat.
Der Film TEETH, GUMS, MACHINES, FUTURE, SOCIETY (2016) ist Ausgangspunkt und Anker der Ausstellung. Weiße Kissen auf einem schwarzen Teppich laden Besucherinnen und Besucher im Museion dazu ein, es sich vor einer großen Projektionsfläche bequem zu machen. Lili Reynaud-Dewars Film dokumentiert eine Performance in Memphis im US-amerikanischen Bundesstaat Tennessee. Auf der muschelförmigen Betonbühne des „Levitt Shell” werden Auszüge aus dem sozialistisch-feministischen Manifest von Donna Haraway rezitiert, während vier lokale Stand-Up-Komiker dazu improvisieren. Reynaud-Dewar wählte die Südstaaten-Metropole Memphis aufgrund ihrer Vergangenheit als Zentrum des Sklavenhandels und des „Civil Rights Movement“. Die Bürgerrechtsbewegung erreichte 1968 mit dem Streik der mehrheitlich „schwarzen“ Müllabfuhr und dem zeitgleichen Attentat auf Martin Luther King, Jr. einen Höhepunkt. Memphis ist – als Stadt des Blues, als letzte Ruhestätte von Elvis Presley und als vitales Zentrum der Rapkultur – auch ein legendärer Schauplatz US-amerikanischer Musikgeschichte.
In ihrer Performance nutzt Reynaud-Dewar als weiße, europäische Künstlerin diesen historischen und sozio-kulturellen Hintergrund, um mit den vier Komikern das Thema der Vereinnahmung und Übertragung eines Kultobjekts zu hinterfragen, wie eben die aus Edelmetallen wie Gold, Silber oder Platin hergestellten und wie eine Zahlspange getragenen Grills. Auch wenn sie mittlerweile auch im Mainstream bei Celebrities wie Lady Gaga und Madonna auftauchen, spielen sie seit den frühen 1990er-Jahren vor allem in der afroamerikanischen Musikkultur eine ambivalente Rolle. Auf der einen Seite sind sie Teil des sogenannten Ballin’ oder Flossin’, also des Zur-Schau-Stellens oder auch nur des Vorgebens von Reichtum und Erfolg. Gleichzeitig haben sie mitunter aber auch die Funktion, marode Zähne zu verstecken und markieren somit eine soziale Wirklichkeit, in der es einen Versicherungsschutz im Krankheitsfall nicht gibt. In diesem Sinn betonen die Grills die Zähne in ihrer besonderen Position zwischen dem Inneren und Äußeren des Körpers oder Privatem und Öffentlichem. In einem erweiterten Sinn können sie als Entstellung des dominanten amerikanischen Traums gedeutet werden. Die Grills sind in der Ausstellung auch physisch vertreten – mit 12 handgefertigten Originalstücken aus Gold, Silber und versilbertem Gold und mit überdimensionalen Installationen, die als Abfallbehälter fungieren. Auf dem Boden des Ausstellungsraums liegt Müll, den die Künstlerin während der Dreharbeiten in Memphis gesammelt hatte, um an den großen Streik der afroamerikanischen Müll-Arbeiter in den sechziger Jahren zu erinnern.
Das Interesse von Lili Reynaud-Dewar für den Grill-Schmuck als kybernetische Körpermodifikation und Element sozialer Emanzipation verbindet diesen mit dem 1985 entstandenen Essay A Cyborg Manifesto von Donna Haraway. Auch wenn das eher ironisch zu verstehen ist, nutzt das feministische Manifest das Mischwesen des Cyborg als Metapher für die Überwindung der Trennung zwischen Klassen, ethnischen Zuordnungen und Geschlechtern, um damit einen chimärenartigen Zustand der Verschmelzung zu beschwören, in dem diese Grenzen aufgehoben sind. Auszüge aus dem Manifest von Donna Haraway tragen großformatige Aufsteller, die den Ausstellungsraum strukturieren, und auf dem Boden liegende Plakate. Teil der Ausstellung ist ein im Museion gedrehtes unveröffentlichtes Tanzvideo, in dem die Künstlerin nackt, mit silberner Farbe bemalt und silberne Grills tragend durch die Ausstellung streift, so dass sie selbst wie ein menschlicher Grill-Schmuck erscheint. Ihre flüchtige körperliche Präsenz verbindet die Ausstellung mit dem Film. Damit reflektiert sie die in dem Projekt angelegten Fragen nach kultureller und räumlicher Aneignung und ihre künstlerische Rolle und Identifikation mit den in diesem Projekt aufgeworfenen Themen.
Lily Reynaud-Dewar war mit ihren Einzelausstellungen – unter anderem – im New Museum in New York (2014), in der Kunsthalle Basel (2010) sowie in der Generali Foundation in Wien (2012) vertreten. 2015 nahm sie an der Biennale in Venedig teil. Auf Einladung des Gastkurators Pierre Bal-Blanc schuf sie für das Museion das Video „Live Through That ?!”, in dem Sie nackt durch die leeren Ausstellungsräume des Hauses tanzt.
Anlässlich der Ausstellung erscheint ein Künstlerbuch. Lili Reynaud-Dewar
TEETH, GUMS, MACHINES, FUTURE, SOCIETY
28/01 – 07/05/2017