Der Blaue Reiter ist der Name des legendären Almanachs, der von Wassily Kandinsky (1866–1944) und Franz Marc (1880–1916) herausgegeben wurde und 1912 in München erschien. Kandinsky und Marc versammelten in diesem Buch Texte und Bilder aus unterschiedlichen Kulturen und von verschiedenen Künstlern. Der Almanach sollte die Notwendigkeit eines Epochenumbruchs der Künste zu Beginn des 20. Jahrhunderts dokumentieren. Er zeugt von einem damals revolutionär neuen Kunst- und Weltverständnis, bei dem es nicht mehr um die Abbildung der sichtbaren Wirklichkeit ging, sondern um die Verbildlichung geistiger Fragen. Dies zeigt sich vor allen Dingen in einer Befreiung der Farbe, die angeregt wurde durch die Voralpenlandschaft südlich von München. Dieses Denken, vor dessen Hintergrund vor allem Kandinsky und Marc ihren Weg zur Abstraktion entwickelten, führte zu einem Wendepunkt in der abendländischen Kunstauffassung und prägte Generationen von Malern – bis heute.
In der Ausstellung, in der rund 70 Werke und insgesamt über 90 Exponate zu sehen sein werden, wird der Almanach vorgestellt und die Revolution der Malerei zwischen 1908 und 1914 veranschaulicht, vor allem durch bedeutende Werkgruppen Kandinskys und Marcs.
Das laut Kandinsky zufällig im Gespräch mit Marc entstandene Sinnbild des Blauen Reiters kann dabei als eine Art Kurzprogramm gesehen werden: das Blau als kosmische Farbe in Verbindung mit der in sich ruhenden Natürlichkeit des Tieres und der grenzüberschreitenden Dynamik des Reiters auf dem Sprung. In einem speziell entworfenen multimedialen Informationsraum wird anhand einer „Geographie des Blauen Reiters“ die Internationalität der beteiligten Künstler in einem avantgardistischen Europa ohne Grenzen verdeutlicht, dem der 1. Weltkrieg ein brutales Ende bereitete.
Die Ausstellung setzt zeitlich im Jahr 1908 ein, als Kandinsky und Münter als unverheiratetes Paar in München eine gemeinsame Wohnung bezogen und sich mit den ebenfalls in „wilder Ehe“ lebenden Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky im oberbayerischen Murnau trafen. Im folgenden Jahr erwarb Münter dort das noch heute existierende Haus, in dem sie und Kandinsky bis 1914 vor allem die Sommer verbrachten.
Der Weg aufs Land bedeutete die Erfüllung der Suche nach einem einfachen, unkonventionellen Leben im Einklang mit der Natur und der bäuerlichen Welt Oberbayerns. In diesem Sinne ist Münters und Kandinskys Schritt auch unter dem Aspekt der Lebensreform zu verstehen, die in der Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg grosse Teile der Gesellschaft beeinflusste und zu unterschiedlichen Ergebnissen führte: Zivilisationskritik und der Wille zu einem gesellschaftlichen Neuanfang waren eng miteinander verknüpft. Kandinskys und Münters Beschäftigung mit Volkskunst, vor allem mit der oberbayrischen Glasmalerei, steht im Zusammenhang mit ihrer Idee von einer Gleichberechtigung aller Künste, die später im Almanach dokumentiert wurde, in dem westliche Kunst mit Kinderzeichnungen, Votivbildern und Kunst aus Afrika und Asien kombiniert ist.
Die Zusammenarbeit zwischen Münter, Werefkin, Jawlensky und Kandinsky und die Darstellung der lichtdurchfluteten oberbayrischen Seenlandschaft, die von der Alpenkette dominiert wird, führte zu einer neuen Farbbehandlung, welche in der Ausstellung einen ersten Schwerpunkt bildet: Leuchtende, ungemischte Farben wurden als Flächen nebeneinander gesetzt; die sichtbare Pinselstruktur vermittelt Dynamik. Dieser Prozess wurde von Gabriele Münter als „... vom Naturabmalen – mehr oder weniger impressionistisch – zum Fühlen eines Inhaltes – zum Abstrahieren – zum Geben eines Extraktes“ beschrieben, wobei eine wichtige Rolle dabei Alexej von Jawlensky und seinen Landschaftsbildern zukommt, mit ihren betont „einfachen“ Farbformen.
Die Behandlung der Flächen führte bei Kandinsky zu einer Befreiung der Linie von der Kontur und zur Befreiung der Fläche von der Gegenständlichkeit, wie es vor allem an seinen Gemälden des Schlüsseljahres 1910 verfolgt werden kann; von ihnen ist in der Ausstellung eine wunderbare Auswahl zu sehen.
Eine der wichtigsten Bestrebungen der Künstler um den Blauen Reiter, vor allem aber Kandinskys lag in der Vermittlung der Auffassung, dass Kunst synästhetisch ist, dass sie Grenzen zu anderen Kunstformen überschreitet. Die Idee der Synästhesie spiegelt sich auch in der Alltagssprache: Wer von einer „Komposition“ spricht, meint zwar meist eine musikalische Komposition, aber man spricht im Sinne einer Bild-Komposition auch von der Anlage eines Kunstwerkes. Farbe kann auch Klangfarbe sein, und ein Ton ist auch ein Farbton. Das sollte man bedenken, wenn man seine grossformatigen Abstraktionen, wie z. B. die legendäre Komposition VII, 1913, aus der Tretjakov-Galerie betrachtet. Ein besonders wichtiges Element kommt hinzu: der Rhythmus, der durch die Beschäftigung des Auges mit dem Bild entsteht. Kandinskys Bilder sind nicht Ausdruck von Malgesten. Aber die Interaktion zwischen Betrachter und Werk lässt idealerweise einen Rhythmus des Sehens entstehen, der in Musik seine Entsprechung findet.
Seit 1910 lebten Franz Marc und Maria Franck zusammen im 15 Kilometer von Murnau entfernten Sindelsdorf. Die Begegnung zwischen Kandinsky und Marc Anfang 1911 brachte den entscheidenden Impuls für die Publikation des Almanachs Der Blaue Reiter, den Marc und Kandinsky gemeinsam herausgaben. Obwohl beide Künstler das Streben nach kultureller Erneuerung einte, waren sie doch sehr unterschiedlich in ihren künstlerischen Ausdrucksformen. Das wird vor allem deutlich, wenn man die beiden Bilder betrachtet, die als Zeichen ihrer Freundschaft von Marc und Kandinsky getauscht wurden und die, zum ersten Mal überhaupt, in unserer Ausstellung zusammen gezeigt werden sollen. In dem von Marc an Kandinsky geschenkten Bild Der Traum, 1912, aus der Sammlung des Museum Thyssen-Bornemisza zeigt sich anhand der geschlossenen, aus einer Vielfalt von Formen bestehende Farbwelt mit den charakteristischen blauen Pferden das Interesse des Künstler an der Darstellung einer seelenvollen Natur. In Kandinskys Geschenk an Marc, die Improvisation 12, 1910, mit dem bezeichnenden Zusatztitel Der Reiter (Bayerische Staatsgemäldesammlung, München), manifestiert sich geradezu sein Bestreben, der Dynamik des Geistes durch leuchtende Farben und die Auflösung der Gegenständlichkeit ein Bild zu geben.
Es ging Marc nicht um die Abbildung eines Tieres, sondern um die Darstellung von dessen Wesen als Ausdruck einer archaischen und unverfälschten Natur. Die Feier der Tierseele in seinen Gemälden ist vor dem Hintergrund der beginnenden Naturschutzbewegung vor dem Ersten Weltkrieg zu sehen; sie scheint die Gegenwelt zu technischem Fortschritt zu repräsentieren und damit dem besonders in der deutschen Gesellschaft immer vorhandenen Hang zur Fortschrittskritik zu entsprechen. In der Ausstellung ist eine Auswahl seiner wichtigsten Tierbilder zu sehen, vor allem das nur sehr selten gezeigte Gemälde Die grossen blauen Pferde, 1911 (Walker Art Center, Minneapolis), ist ein Höhepunkt.
Mehr noch als bei Marc, der vor hundert Jahren, am 4. März 1916, den Tod auf dem Schlachtfeld bei Verdun fand, hat man bei dem schon am Anfang des 1. Weltkrieges gefallenen August Macke das Gefühl des Unvollendeten, wenn man sein Oeuvre betrachtet. Seine Werke sind der Versuch, abstrakte Farbkomposition mit Figuration in Verbindung zu bringen. Im Unterschied zu den anderen Künstlern um den Blauen Reiter schildert er Szenen des modernen Lebens, die durch kubistische Farbstrukturen mehransichtig erscheinen. Ein Saal in der Ausstellung ist hauptsächlich seine Bildern gewidmet, darunter lange nicht mehr ausgestellte Werke, die das Potential dieses Künstlers zeigen, der zudem im Almanach Der Blaue Reiter mit dem Text „Masken“ einen der besten Beiträge dort verfasst hat. Werke von Robert Delaunay, Heinrich Campendonk, dem Komponisten und Maler Arnold Schönberg und David Burljuk runden die Auswahl der Künstler ab.
Ein zentraler Raum wird dem Almanach Der Blaue Reiter gewidmet sein, der mit dem Ziel, eine neue Weltsicht zu schaffen, durch zahlreiche Abbildungen die Synergien von musikalischen und bildenden Künsten veranschaulicht und somit eine Art Gesamtkunstwerk ist. In einer besonderen Installation werden ausgewählte Bildkombinationen dargestellt werden, indem die Reproduktionen im Almanach mit den Originalen konfrontiert werden. Zeitlich begrenzt wird die Schau durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914, der das Ende der Zusammenarbeit der Gruppe markierte. Vor allem im Werk von Franz Marc deutet sich die kommende Katastrophe an. Marcs relativ grossformatiges Gemälde Die Wölfe (Balkankrieg), 1913 (Buffalo, Albright-Knox-Gallery), in dem auf die politische Situation im Balkan angespielt wird, deren Eskalation zum 1.Weltkrieg führte, zeigt Wölfe, die sich geduckt schlafenden Tieren nähern, während Blumen unter ihnen zu verwelken scheinen: Eine apokalyptische Landschaft.
Der Besucher hat die Chance den Blauen Reiter neu zu entdecken, denn viele der gezeigten Werke waren schon lange nicht mehr öffentlich zu sehen:• Die Ausstellung zeigt zum ersten Mal überhaupt gemeinsam die Geschenke, die beide Künstler austauschten: Kandinskys Improvisation 12, 1910 (seit 1958 nicht mehr ausserhalb Münchens zu sehen), und Marcs Der Traum, 1912.• Marcs herausragendes Werk Die grossen blauen Pferde, 1911, kommen das erste Mal seit dem Jahr 2000 aus Minneapolis nach Europa.• Mit Marcs Der Wasserfall, 1912, ist ferner ein wichtiges, programmatisches Werk zu sehen, das zuletzt 1949 öffentlich ausgestellt wurde.• Kandinskys Werk Murnau – Obermarkt mit Gebirge, 1908, wurde zum letzten Mal 1972 in einer kommerziellen Galerie in Paris gezeigt; das Werk Dünaberg, 1909, zum letzten Mal öffentlich 1957 in Kopenhagen.• Mackes Waldspaziergang, 1913, ist erstmals seit 1973 wieder zu sehen.• Mit Komposition VII, 1913, aus der Tretjakov-Galerie wird wohl die grösste je von Kandinsky gemalte Komposition bei uns gezeigt (200 x 300 cm). • Zudem zeigt die Ausstellung eine Auswahl an Werken, die im Blauen Reiter Almanach kombiniert wurden, in einem speziellen, dem Almanach gewidmeten Raum.
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog, der das Thema in verschiedenen wissenschaftlichen Beiträgen behandelt. Dort sind alle Werke abgebildet.
Die Ausstellung „Kandinsky, Marc & Der Blaue Reiter“ wurde ermöglicht durch die Unterstützung von: Beyeler-Stiftung Hansjörg Wyss, Wyss-Foundation L. + Th. La Roche-Stiftung Novartis Walter Haefner Stiftung
Nachfolgend finden Sie eine Auflistung der letzten Möglichkeiten, an denen Sie Coucou Bazar noch live in der Fondation Beyeler erleben können:
Mittwoch, 27. April 2016, 15.00 Uhr und 17.00 UhrSamstag, 30. April 2016, 14.00 UhrSonntag, 1. Mai 2016, 14.00 und 16.00 UhrMittwoch, 4. April 2016, 15.00 Uhr und 17.00 UhrSamstag, 7. Mai 2016, 14.00 UhrSonntag, 8. Mai 2016, 14.00 und 16.00 Uhr
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