Drei europäische Museen – die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, das Musée des Beaux-Arts in Lyon und die National Galleries of Scotland in Edinburgh – sind Partner bei dem trinationalen Kunstereignis „Ich bin hier. Europäische Gesichter“. Es wird von der EU als Teil des Programms „Kreatives Europa“ der Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur der Europäischen Kommission großzügig unter- stützt.
Die ältere Kunstgeschichte hat kanonische Formen von Selbstdarstellungen im Porträt hervorgebracht, für die sich auch in den Werken der Ausstellung Entspre- chungen finden lassen: Künstler haben sich oft als Einzelfigur isoliert in Szene ge- setzt – als Akt, in berufsspezifischer Einkleidung, in prachtvoll-feudaler Gewan- dung oder in bürgerlich-sachlichem Habit oder in grotesker Maskerade. Sie zeigen sich mit den Attributen ihrer Arbeit, mit Spiegel, Zeichenstift, Pinsel und Palette; sie verknüpfen Automimesis mit ikonografischen Mustern und versetzen sich in inszenierte Posen – als Märtyrer, Denker oder Melancholiker. Sie stellen sich im szenischen Zusammenhang erzählerischer Kompositionen dar und zeigen sich in Gesellschaft mit Freunden, Kollegen oder in der Familie, im Salon, auf der Reise oder in der freien Natur. Ihre Selbstentwürfe können von neuem Selbstbewusst- sein zeugen, das bis zur hypertrophen Idealisierung der eigenen Person reichen kann, oder sie spiegeln die Befunde künstlerischer Introspektion und profilieren den Künstler im Feld psychosozialer Konfliktlagen. Die Moderne hat das romant sche Dogma der Selbstoffenbarung im Autoporträt hervorgebracht und auf das Verständnis des Künstlers in einem überhistorischen Sinn übertragen: der auto- nome, sozial entwurzelte Künstler als Verkörperung des Ausgegrenzten, Andersar- tigen, Widerständigen, das Bild des Selbst als Abbild von Verzweiflung, Elend und Ekstase, als Spiegel der modernen „Welt-Fremdheit“ des Künstlers. In Abgrenzung zur Krisentypologie des kreativen Menschen hat die Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die überkommenen Repräsentationsmuster außer Kraft ge- setzt, wenn sie sie sich nicht kritisch und ironisch zitierend angeeignet hat. Das Feld künstlerischer Untersuchungen wurde auf den Körper erweitert, der als Mate- rial bearbeitet oder fragmentarisch eingesetzt wird. Seit den 1970er Jahren de- mentieren Künstlerinnen die männlich dominierte Gattung des Selbstporträts, indem sie Ansatzpunkte für spezifisch weibliche Formen der Selbstdarstellung entwickeln; neue Strategien der Selbst-Destruktion wurden in Aktionen und Per- formances erprobt. Die Ausstellung zeigt dieses breite Spektrum in Werken von Vincenzo Campi, Rembrandt van Rijn, Marie Ellenrieder, Gustave Courbet, Hans Thoma, Anselm Feuerbach, Ernst Ludwig Kirchner, Henri Matisse, Max Beckmann, Andy Warhol, Marina Abramović, Tracey Emin, Annie Lennox, Ai Weiwei u. v. a.
Ergänzt wird die Ausstellung durch eine Einladung an den Besucher, sich selbst in einem magischen Spiegel zu sehen: mit den interaktiven Medienkunstwerken Flick_EU / FLICK_EU Mirror des ZKM l Karlsruhe. Bei dem Projekt FLICK_EU von Peter Weibel und Matthias Gommel werden die Besucher in einem Fotoautomat porträtiert und Teil der Ausstellung. Das Projekt FLICK_EU schafft eine virtuelle Gemeinschaft, denn der Besucher ist digital auch in anderen europäischen Muse- en und Städten präsent. Eine andere Sicht auf die Gemeinschaft der FLICK_EU- Bürger zeigt die Installation FLICK_EU MIRROR von Bernd Lintermann und Joachim Tesch. In einer Projektion sieht der Besucher sein live aufgenommenes Videobild. Nach kurzer Zeit vergröbert sich das Bild und der Betrachter erkennt, dass die ein- zelnen Bildpunkte Porträts von Personen sind, die sich an FLICK_EU beteiligt ha- ben. Flick_EU und FLICK_EU MIRROR sind Reflexionen über die Rolle des Einzelnen, seinen Hang zur Selbstdarstellung und sein Verschwinden in der Masse der digitalen Bilder.
Junge KunsthalleSelfiesBegleitausstellung zu Ich bin hier31. Oktober 2015 – 30. Januar 2016Selfies sind aus dem Alltag heute nicht mehr wegzudenken. Vor allem für Jugend- liche sind sie ein wichtiges Mittel der Selbstdarstellung. Eine Reflexion über dieses noch junge Phänomen regt die Ausstellung Selfies in der Jungen Kunsthalle an. Die Vermittlungsarbeit setzt bei der Betrachtung der Selbstporträts in der Ausstel- lung „Ich bin hier!“ ein. Vor diesem Anschauungshintergrund können in der Jun- gen Kunsthalle Selbstinszenierungen vorgenommen und Selfies produziert wer- den. Dabei werden die technischen Grenzen des Mediums ausgelotet: Die Selfies werden in Analogie zum Internet in ein „Netz“ gehängt, das immer dichter und verzweigter wird. Ältere Selfies verschwinden nicht, sondern sind immer auffind- bar. Diese Visualisierung soll eine Reflexion über die Handhabung von Bildern im Internet anregen und die Medienkompetenz junger Menschen fördern. In der praktischen Arbeit wird die digitale Produktion mit analogen Techniken verknüpft. Dies ermöglicht den ständigen Blick- und Medienwechsel. Ziel der Vermittlungsar- beit in der Jungen Kunsthalle ist es, ein Bewusstsein für die materielle Bedingtheit aller kreativen Praxis herzustellen: So wie ein Gemälde und eine Druckgrafik durch den Gebrauch und die Beschaffenheit der künstlerischen Mittel und Instrumente bedingt sind, so ist das Selfie durch viele äußere Faktoren bestimmt, z.B. durch die Armeslänge oder den Selfiestick, die den Abstand zur Kamera definieren. Über umfangreiche Aktivitäten in den Sozialen Netzwerken Twitter, Facebook und der Fotosharing-Plattform Instagram werden Zielgruppen, die sich für Selfies interes- sieren, angesprochen. Im Rahmen der trinationalen Kooperation werden Selfies von Jugendlichen gezeigt, die in Kursen der drei beteiligten Museen in Karlsruhe, Lyon und Edinburgh entstanden sind. Darüber hinaus werden Ergebnisse aus ei- nem von der EU geförderten Selfie-Workshop präsentiert, der von drei Studentin- nen der Kunstakademien aus Karlsruhe, Lyon und Edinburgh im Vorfeld mit Ju- gendlichen durchgeführt wurde. 
FRAGEN AN DAS KURATOR/INNENTEAMWarum ist das Thema Selbstdarstellung gerade in der heutigen Zeit aktuell?In keiner historischen Epoche war die Gesellschaft so von Bildern bestimmt wie heute. Die Möglichkeit, per Smartphone das eigene Bildnis festzuhalten, es mit Freunden zu teilen und darüber hinaus im Netz zu verbreiten, ist ungeheuer reiz- voll. Diese „moderne Mitteilungssucht“ befriedigt einen Wunsch, der nicht erst mit der Generation Smartphone entstanden ist, sondern in gewisser Hinsicht einen Grundzug des Menschen darstellt. Das heute omnipräsente Selfie lässt sich als eine zeitgenössische Spielart der Selbstdarstellung verstehen, die sich analog zu den technischen Möglichkeiten immer stärker verbreitet und ausdifferenziert.
Warum zeigen Sie Selfies im Kunstmuseum?Künstlerinnen und Künstler beteiligen sich am Selfie-Phänomen und bereichern die stetig wachsende Bildersammlung im Netz durch Beiträge, die vom schnellen Schnappschuss bis zur sorgfältig inszenierten Versuchsanordnung reichen. Im Rahmen der Ausstellung zeigen wir eine Reihe von Selfies von Ai Weiwei, der sehr experimentell mit dem Medium umgeht, ihm aber zugleich auch eine politische Bedeutung zuweist. Das Kunstmuseum sollte keine finale Bestimmung von Selfies versuchen und das Thema nicht kulturpessimistisch ausblenden. Allein schon der Begriff Selfie ist nicht klar definiert; er ist vielmehr sehr flexibel und wird täglich erweitert. Warum die künstlerische Faszination für Selfies? Warum die nach wie vor große Beliebtheit vor allem bei jungen Leuten? Wir sehen das Museum als Ort der Distanznahme und der Reflexion dieses schillernden Phänomens. Durch die historische Breite unseres Projektes verdeutlichen wir die Reflexe der Kunstgesichte in der Populärkultur. Gleichzeitig können die Besucher ihre eigene Selbstdarstel- lung durch die Betrachtung der Geschichte hinterfragen. „Ich bin hier!“ ermöglicht unseren Besuchern somit Erfahrungen mit künstlerischen Selbstdarstellungen, die den Blick auf den heutigen Mediengebrauch und die Praxis des Selfie-Machens verändern können.
Wie werden die Werke in der Ausstellung „Ich bin hier!“ präsentiert?Schon im ersten Raum der Ausstellung gibt es eine überraschende Konstellation von Bildern und Gipsabgüssen nach antiken Plastiken, die deutlich macht: Ge- schichte wird hier nicht linear, nicht im zeitlichen Nacheinander – als Gattungsge- schichte des neuzeitlichen Selbstporträts – aufbereitet. Vielmehr werden epochenübergreifend Werke miteinander in Beziehung gesetzt, die nach herkömmli- chen musealen Kategorien getrennt voneinander gezeigt werden. So trifft Remb- randt auf Robert Mapplethorpe, Annie Lennox auf Gustave Courbet und Marie Ellenrieder auf Ken Currie. Kunstgeschichte wird in unserer Ausstellung zwar in einer breiten europäischen Perspektive, aber nur in Bruchstücken erzählt. Das wei- te Feld künstlerischer Selbstdarstellung soll mit seinen vielen unterschiedlichen Facetten gezeigt werden und dabei sollen die Wucht der großen Bilder, aber auch die anekdotischen, skurrilen und bizarren künstlerischen Artikulationen zur Gel- tung kommen. Unsere Präsentation gleicht einer eigenwilligen Versuchsanord- nung, die den Besucher animieren soll, die eingeübten Sehpfade zu verlassen.
Die Besucher in Karlsruhe, Lyon und Edinburgh sollen am Projekt partizipie- ren – warum ist das für diese Ausstellung wichtig? Die Frage der Selbstdarstellung ist gerade in Zeiten des Selfies keine rein künstleri- sche Problemstellung mehr. Die direkte Einbeziehung der Besucher durch Expona- te in unserer Ausstellung erschien uns geradezu zwingend. So beispielsweise bei dem Kunstprojekt Flick_EU und FLICK_EU-MIRROR, zwei Arbeiten, die uns vom ZKM Karlsruhe zur Verfügung gestellt werden. Die Besucher können sich mit Hilfe eines Fotoautomaten porträtieren lassen und anschließend selbst Teil der Ausstel- lung werden. Dem interaktiven Projekt der Ausstellung liegt zugrunde, dass es die Rolle des Einzelnen, seinen Hang zur Selbstdarstellung und sein Verschwinden in der Masse der digitalen Bilder thematisiert. Die Bilderflut an fotografischen Selbst- inszenierungen, die uns in sozialen Netzwerken geradezu überrollt, kann aber auch unser Auge für die besonderen Qualitäten der „historischen“ Selbstbildnisse schärfen.
Di - So 10 - 18 Uhr,montags geschlossen
EintrittVon 31.10.2015 bis 30.01.2016regulär € 8 / ermäßigt € 6 /Schüler € 2 / Familien € 16
Freunde der StaatlichenKunsthalle haben freien Eintritt. Museumspass frei
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