Joseph Roth…
Joseph Roth…
Joseph Roth, der selbst aus Brody stammte, sprach von einem „Zwischenreich“. Heute gehört der Westteil zu Polen, Ostgalizien liegt in der Ukraine. Politik und Krieg haben der Frage nach der europäischen Identität der Region Aktualität gegeben. Entstanden ist Galizien als künstliches Gebilde in Folge europäischer Machtpolitik: 1772 fiel nach der Teilung Polens ein Gebiet an Österreich, dem man den Namen „Galizien“ gab – für Joseph II. ein zu „zivilisierendes“ Territorium, das Bodenschätze und Rekruten lieferte. Galizien war von ethnoreligiöser Vielfalt geprägt: Man sprach Polnisch, Ukrainisch und Jiddisch, man war römisch-katholisch, jüdisch und griechisch-katholisch.
Erstmals gilt der Blick den divergierenden polnischen, ukrainischen, österreichischen und jüdischen Perspektiven. Diese werden mit historischen Fakten konfrontiert. Dem Mythos Armut und Rückständigkeit stand der Mythos Fortschritt gegenüber. Um 1900 wurde Galizien durch seine großen Ölvorkommen zum „österreichischen Texas“. Nach der Teilautonomie von 1867 entstand der Mythos vom „guten Kaiser“ in Wien. Galizien als multiethnisches Arkadien? Zugleich nahmen aber die sozialen und nationalen Spannungen zu. Ein Abschnitt widmet sich „Galizien in Wien“: Ab 1880 strömten jüdische Migranten – darunter Künstler und Intellektuelle – in die Reichshauptstadt. „Galizien nach Galizien“ heißt das Schlusskapitel: Mit dem Zerfall der Monarchie verschwand Galizien 1918 von der Landkarte, doch als Mythos feierte es nach 1989 ein Comeback. Die Ausstellung, die in Kooperation mit International Cultural Centre in Krakau entstand, war dort von 9. Oktober 2014 bis 8. März 2015 zu sehen.
Kronland und „Kolonie“Galizien gehörte im Mittelalter als Teil des Fürstentums Halytsch-Wolodymyr für kurze Zeit zur ungarischen Krone, woraus 500 Jahre später Kaiserin Maria Theresia ihren Anspruch auf das Land untermauerte. Von der lateinischen Bezeichnung des mittelalterlichen Fürstentums leitete sich auch der Name des neues Kronlandes ab: „Galizien und Lodomerien“, wobei Lodomerien, das ehemalige Wolodymyr, niemals Teil Galiziens war. Hingegen wurden 1775 Teile des Fürstentums Moldau, das vom osmanischen Reich an Österreich abgetreten wurde, unter dem Namen Bukowina Galizien angegliedert (mit Czernowitz als Hauptstadt wurde die Bukowina 1849 zum eigenen Grönland).
Galizien erwies sich für die Österreicher bald als ethnisch, kulturell, religiös und sprachlich äußerst komplexes Gebiet. Die Straßenverbindungen zwischen Wien und dem Kronland waren schlecht, eine loyale Beamtenschaft musste von außen geholt werden, vorzugsweise aus den tschechisch-sprachigen Gebieten. Militärisch war das neue Territorium kaum zu verteidigen, da es durch die künstlichen Grenzziehungen über keine natürlichen Barrieren verfügte. Für den Kolonialismus typische Praktiken, wie das gegeneinander Ausspielen der verschiedenen Bevölkerungs- und Religions- gruppen, wurden angewendet. Um die Position der polnischen Elite zu schwächen, wurde anfangs die griechisch-katholische Kirche, der vor allem die Ruthenen ange- hörten, gegenüber der römisch-katholischen bevorzugt.
Den Juden gegenüber trat die neue Staatsmacht zwiespältig auf: 1782 wurde Religionsfreiheit zugesichert, aber beim Militärdienst nahm man auf die Einhaltung der Reinheitsgebote keine Rücksicht. Gegen die Orthodoxie und den mystischen Chassidismus unterstützte Österreich die „Haskala“, die jüdische Aufklärung.
Polnischer Widerstand und AutonomieBereits zu Beginn der österreichischen Besetzung formierte sich Widerstand im polnischen Adel. Im Februar 1846 schließlich kam es zu jenen blutigen Ereignissen, die als „Galizische Bauernrevolte“ oder als „Galizisches Gemetzel“ bezeichnet werden: Bauern revoltierten – wahrscheinlich von Österreich dazu aufgestachelt – gegen ihre polnischen Gutsherren, tausend Angehörige der polnischen Aristokratie wurden getötet. Erst nachdem die Situation außer Kontrolle geraten war, griff die österreichische Armee ein.
Kurze Zeit gelang es den Polen in Krakau, die dort stationierten österreichischen Truppen zu vertreiben und eine nationale Regierung zu bilden. Diese konnte sich allerdings nur ein paar Tage halten, danach verlor die seit dem Wiener Kongress „freie Stadt Krakau“ ihre Autonomie und wurde Galizien einverleibt. Ab den 1860er-Jahren ließ die Dominanz der Österreicher nach, der schrittweise Ausbau der galizischen Autonomie stand im Zusammenhang mit grundlegenden Reformen in der Monarchie und dem Ausgleich mit Ungarn 1867.
Polnisch wurde Amtssprache, die Autonomie im Bildungs- und Kulturbereich sowie das Kurienwahlrecht sicherten die polnische Dominanz im Land, vor allem zu Lasten der ruthenischen/ukrainischen Bevölkerung, die im Osten die Mehrheit stellte. In der österreichischen Regierung gab es seit 1871 einen Minister für Galizien, der bis zum Ende der Monarchie stets polnischer Nationalität war. Polnische Politiker wurden auch auf andere wichtige Ministerposten in Wien berufen. Die letzten Jahrzehnte der Monarchie wird vor allem aus polnischer Perspektive oft als „glückliche Zeit“ für Galizien dargestellt, Medien und Propaganda formten den Mythos vom guten Kaiser Franz Joseph als „Vater seiner Völker“. Doch zeitgleich nahmen die nationalen Spannungen – insbesondere zwischen Polen und Ukrainern – zu, auch der Antisemitismus verstärkte sich.
Zwischen Massenauswanderung und ÖlboomDas größte Land der österreichischen Reichshälfte war deren ärmste Provinz. Aus der Perspektive Wiens galt Galizien als „Halb-Asien“ (Karl Emil Franzos), als „Land der Bären“ oder als „österreichisches Sibirien“. Mit dem Begriff „galizischen Wahlen“ meinte man die politische Korruption im Land, mit jenem der „Ternopiler Moral“ (nach der Stadt in Ostgalizien) Betrug und Misswirtschaft.
Galizien war eines der am dichtesten besiedelten Kronländer der Monarchie. Um 1900 lebten noch 80% der Bevölkerung von der Landwirtschaft, allein im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wanderten knapp 500.000 Polen, Ukrainer, Juden und Deutsch- sprachige in die USA, nach Kanada und Brasilien aus. Ab den 1890er-Jahren wurden Industrialisierung und Modernisierung des Landes forciert und der Banken- und Versicherungssektor ausgebaut. Die galizischen Erdölvorkommen machten Österreich- Ungarn vor dem Ersten Weltkrieg mit einem Anteil von 5 Prozent zum drittgrößten Produktionsland der Welt nach den USA und Russland. Technische Innovationen in Verbindung mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes leiteten einen rasanten Ölboom in der ostgalizischen Region um Borysław und Drohobycz ein. Dennoch blieb Galizien bis zum Ende der Monarchie ökonomisch rückständig. Die Wirtschaftsstruktur ähnelte der von Kolonien: Rohstoffe wurden exportiert, Fertigprodukte überwiegend importiert.
Metropole Lemberg, polnisches KrakauZwischen 1850 und dem Ende der Monarchie vervierfachte sich die Bevölkerung der Hauptstadt Lemberg von 50.000 auf mehr als 200.000, knapp die Hälfte der Einwohner waren Polen, je ein Viertel Ukrainer und Juden. Insbesondere ab den 1890er-Jahren boomte die Stadt: Öffentliche Gebäude wurden errichtet, ganze Stadtbezirke aus dem Boden gestampft, Infrastrukturmaßnahmen getätigt. Die Urbanität Lembergs zeigte sich an modernen Hotels, wie dem Hotel George, an Kaffeehäusern, Passagen und Waren- häusern wie dem modernistischen „Kaufhaus Magnus“, das 1913 eröffnete. Sie vermitteln bis heute im Stadtbild die einst engen Beziehungen zwischen Lemberg und Wien.
Krakau kam 1846 zu Galizien. Damit endete der Status der Stadt als Republik (seit 1815) und ihre Bedeutung als internationaler Handelsort. Insbesondere der Ausbau zur Festung unter österreichischer Herrschaft bremste die Entwicklung Krakaus. Die konservative politische Elite sah die alte polnische Königsstadt vor allem als Bewahrerin der großen nationalen Vergangenheit. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden auch in Krakau Schritte zur Modernisierung und Erweiterung der Stadt gesetzt, am Ende der Monarchie hatte die Stadt ca. 150.000 Einwohner.
Österreichische, polnische, ukrainische und jüdische PerspektivenGalizien erschien aus Wiener Sicht vor allem als rückständiges, weit entferntes Land mit exotischen Völkerschaften, unter ihnen Bojken, Lemken, Huzulen, Podhale-Goralen oder Armenier. Nach 1918 war es Joseph Roth, der das Land und seine jüdische Tradition in Erinnerung hielt. Der Holocaust und die kommunistische Zeit entrückten es noch weiter, Galizien wurde zu einem literarischen Topos.
In Polen repräsentierte das von Österreich annektierte Land lange Zeit ein tiefes Unrecht und eine nationale Katastrophe. Erst seit der Autonomie Galiziens innerhalb der Habsburgermonarchie ab 1873 wandelte sich dieses Bild. Anders als in den Gebieten der Teilungsmächte Russland und Preußen konnten sich in Galizien polnische Kultur, Tradition und Politik relativ frei entfalten. So kam dem Land für die spätere Unabhängigkeit eine Schlüsselrolle zu. Im Kalten Krieg wurde Galizien als Nachweis für die Zugehörigkeit zu Mitteleuropa wiederentdeckt. Heute ist es in erster Linie ein Ort regionaler, tendenziell wertkonservativer Identität.
In der Ukraine wird Galizien als eine der Wurzeln für die Entstehung eines National- bewusstseins gesehen. Das bezieht sich auf die Förderung der griechisch-katholischen Kirche durch Maria Theresia und Joseph II., die gegenüber dem römisch-katholischen Polen und dem orthodoxen Russland zu einem Ort ukrainischer Identität wurde. Ein anderer Gründungsmythos bezieht sich auf die Vorgeschichte des Landes, auf Stadt und Burg Halyc, einst Zentrum des galizisch-wolhynischen Fürstentums im Mittelalter.
Insbesondere seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 werden diese historischen Bezüge als Argumente für die lange Zugehörigkeit des Landes zu Europa eingebracht.
In der jüdischen Tradition repräsentierte Galizien über Jahrhunderte ein Territorium, in dem sich Juden unter dem Schutz der polnischen Könige vergleichsweise sicher und selbst bestimmt behaupten konnten. Auch unter österreichischer Herrschaft war Galizien, das die „Mutter Israels“ genannt wurde, ein Raum, in dem sich die verschiedenen Richtungen des Judentums relativ frei entfalten konnten. Das jüdische Galizien wurde im Holocaust vollständig ausgelöscht.
Galizien in Wien1910 lebten 42.000 Menschen aus Galizien in Wien, das sind 2% der Bevölkerung. Orte und Institutionen waren damit verknüpft: die griechisch-katholische Kirche in der Postgasse, die „galizische Garde“, Synagogen wie die „polnische Schul“, das „Ministerium für Galizien“ und das „Polnische Haus“. Ein „Wappenträger“ repräsentiert das Kronland noch heute auf der Fassade des Wiener Rathauses, ein Brunnen im Ehrenhof in Schönbrunn.
Polnische Aristokraten unterhielten Palais und traten als Mäzene auf, Politiker aus Galizien wurden zu Ministerpräsidenten und Ministern berufen, ruthenische Arbeiter- vereine bildeten sich, Zeitungen wie die „Ruthenische Rundschau“ erschienen, Intellektuelle und Künstler wie der Architekt Friedrich Ohmann (u. a. Palmenhaus im Burggarten) und die Dichter Iwan Franko und Joseph Roth hielten sich in Wien auf. Verarmte jüdische Zuwanderer kamen verstärkt in den 1880er-Jahren und trafen auf einen radikalen Antisemitismus. Die „Galizianer“ setzten dennoch starke Zeichen der Selbstbehauptung, gründeten Unterstützungs- und Betvereine, viele sympathisierten mit der nationaljüdischen Bewegung und dem Zionismus. Nach 1918 verließen etliche galizische Polen Wien, für Ukrainer mit galizischen Wurzeln wurde die Stadt hingegen zum Exilort, nachdem die Kämpfe für einen eigenständigen Staat verloren waren. In Wien gab es in den 1920er-Jahren für kurze Zeit eine pulsierende jüdische/jiddische Kultur.
Galizien nach GalizienIm abschließenden Kapitel der Ausstellung geht es um Galizien als mythischen Ort, als imaginären Raum, der noch immer präsent ist. Auf Galizien berufen sich nicht nur moderne Literatur, Filme und Kunst, indem sie in der Vergangenheit verlorene Identitäten suchen, sondern auch die Konsumkultur, indem sie das Attribut „galizisch“ für Werbezwecke als Nachweis von Produktechtheit und traditioneller Herkunft verwendet. Für Juden ist Galizien geprägt vom Trauma des Holocaust, vom Gefühl einer untergegangenen Welt. Im gegenwärtigen Europa, in dem die Europäische Union in manchem an die Habsburgermonarchie erinnert, hält sich das Image Galiziens als Modell der Völkerverständigung und multiethnischen Koexistenz.
Im Kontrast zu diesem imaginären Galizien steht die Wirklichkeit der Schengen-Grenze. Sie trennt das Gebiet in Polen auf der einen und Ukraine auf der anderen Seite. Die geopolitische Trennung von Europa führte in der Westukraine zu einer Rückbesinnung auf die Zeit Galiziens und den Habsburgermythos, im Sinne einer „prowesteuropä- ischen“ Orientierung, was u.a. die zeitgenössische ukrainische Malerei mit Nachdruck zeigt.
Dienstag bis Sonntag & Feiertag, 10 bis 18 UhrGeschlossen: 1.1., 1.5. und 25.12.
Eintritt: Erwachsene: 8 €. Ermäßigt 6 € (SeniorInnen, Wien-Karte, Ö1-Club, Menschen mit Behinderung, Studierende bis 27 Jahre, Lehrlinge, Präsenz- und Zivildiener, Gruppen ab 10 Personen) Kinder und Jugendliche unter 19 Jahre - Eintritt frei! Jeden ersten Sonntag im Monat für alle BesucherInnen - Eintritt frei!
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