Zum dritten Mal kooperieren fünf Kunstinstitutionen der Metropolregion Nürnberg und zeigen ein breites und spannendes Spektrum an zeitgenössischer Zeichnung. Die Auswahl der Aussteller verantwortet jede Institution selbst. Die einzige Spielregel für die Schau im Jahr 2015 ist, an jedem Ausstellungsort Positionen jüngerer und älterer KünstlerInnen miteinander zu konfrontieren.Die städtische Galerie von Fürth hat die Berliner Malerin und Zeichnerin Heike Ruschmeyer und den Zeichner Kirill Schröder eingeladen.
Vielleicht wäre die Alliteration „Ahnungen und Ängste“ keine schlechte Wahl für einen Titel für diese Doppelausstellung. Kirill Schröder ist Jahrgang 1986 und ein junger Maler und Zeichner, der einen Kosmos entwirft aus fantastischen Figuren zwischen Hieronymus Bosch und Underground-Comix, zwischen Max Ernst und David Lynch: Radiergummimännchen, surreale Menschmaschinenwesen, zweibeinige Bockwürstchen, hier wie zu Kaisers Zeiten im Nacken ausgescherte Bürohengste oder Urgroßmütter mit Dutt und Pellerine, dort jedoch wieder junge, tough gekleidete Menschen, Nackte zwischen beflissenen Hybriden, manche in anscheinend anstößigen Posen, Mops-Menschen, karnevaleske Stachelwesen, dackelähnliche Dreigesichter, halbbekleidete oder schwalbenschwänzige Würdenträger, lakaienhafte Ku-Klux-Klan-Gestalten, archaisch anmutende Androiden, fröhlich grinsende Lachköpfe, Skelettartige oder Ministranten oder Zwergenhafte, das sind nur einige wenige Möglichkeiten, die miteinander agierenden, über die großen, polyperspektivischen Blätter defilierenden Figuren zu charakterisieren. Kirill Schröder, der aus St. Petersburg stammt, Meisterschüler bei Ralph Fleck in Nürnberg war und heute bei München lebt, beschwört ein eigenartiges Klima einander widerstreitender Ahnungen herauf. Natürlich bleibt alles vage, manches reizt zum Lachen, anderes wirkt so bizarr, dass die Betrachter sich vielleicht weitere Fantasien versagen. Die Zeichnungen (bevorzugt mit Graphit und Tusche) sind keine Storyboards, auch wenn der eine und andere Charakter wiederholt auf verschiedenen Blättern auftaucht. Man fühlt sich gar nicht weit weg von den beklemmenden Welten eines Henry Darger oder dem menschlichen Tiergarten eines Blalla W. Hallmann. Die Figurenkonstellationen Schröders (oder sollte man sie Figurenkonstruktionen nennen?) sind eine Art von Interdependenzgeflecht, dessen ästhetisches Programm vielleicht auch mit einer Zeile eines Gedichts von Cees Nooteboom auf den Punkt gebracht werden könnte: „Wer das Anschauen / nicht bricht / sieht nichts.“ (Das Gesicht des Auges, 1989).
Heike Ruschmeyer, ziemlich genau 30 Jahre älter als Schröder, hat sich mit ihren Bildern von Toten in die jüngere deutsche Kunstgeschichte eingeschrieben. Es sind keine Ahnungen mehr, es sind Ängste und mehr als das, was die Bilder und Zeichnungen von Heike Ruschmeyer wecken. Sie malt seit ihrer Akademiezeit, also seit mehr als dreißig Jahren, Bilder von Gestorbenen und von Gewaltopfern. Dass sie in Fürth nicht unbedingt nur mit Zeichnungen vorgestellt wird, die der tradierten Definition von Zeichnung entsprechen (u.a. als Arbeiten auf Papier), erklärt sich mit ihrer Malweise.
Die Berliner Zeitung schrieb in einer längeren Rezension (Anita Wünschmann im Jahr 2000), dass in den Bildern nach Fotos aus der Zeitung oder der Gerichtsmedizin die Linie dominiere. Die Zeichnung als lineares Geschehen ist also offensichtlich ein vorherrschendes Merkmal sogar der Bilder. Heike Ruschmeyer lässt gelegentlich auch das Raster stehen, das sie verwendet, um die Motive der Fotovorlagen auf ihren Leinwänden zu vergrößern. Wobei dieses Stilmittel angesichts ihrer Themen hilft, sich ein kleinwenig zu distanzieren von den Bildinhalten, eine analytische Position einzunehmen, wie das ein professioneller Betrachter von Tatortbildern aus Gründen des Selbstschutzes tut. In großen Bildern, die in dieser Zeichnungsausstellung leider nicht gezeigt werden, wird ein stupendes malerisches Können sichtbar, das gleichermaßen dazu dient, die harten Sujets etwas erträglich zu machen, das Interesse an den Bildern aber nicht abflachen zu lassen.
Dadurch erklärt sich auch die unterschiedlich nachhaltige Wirkung der dokumentarischen Fotovorlagen und der Werke der Künstlerin. In den delikaten Farbflächen wie in den subtilen Schraffuren oder den differenzierten Schwarztönen liegt eine tiefe Melancholie, die durch die lesbaren Partien der Zeichnungen oder Bilder natürlich bestätigt wird. Fantasie ist für Heike Ruschmeyer keine Inspirationsquelle. Ihren Stoff findet sie überreichlich in Polizeiberichten u.ä.m., Familienalben geben ihr nicht den Anlass für kleine oder große Sentimentalitäten, von Verklärung unbeeindruckt, weist die Malerin und Zeichnerin auf die einebnende Gewalt der Zeit hin - und die alle Zeiten beherrschende Gewalt in den menschlichen Beziehungen. Noch in ihren menschenleeren Tatortbildern schwingt der Augenblick der zerstörerischen Gewalt nach wie ein nicht zu überhörendes Echo. Heike Ruschmeyer steht in der Tradition der Berliner Kritischen Realisten (vorrangig die Gruppe „Großgörschen 35“, Peter Sorge oder Ruschmeyers Lehrer Wolfgang Petrick u.a.m.). Der Wucht ihrer Zeichnungen und Bilder vermag sich kaum ein Betrachter zu entziehen. Während der junge Kirill Schröder mit seinen Blättern befremdliche Schwingungen auslöst, überschreitet Heike Ruschmeyer da und dort die Grenze zum Traumatischen.
Unter www.kunstverein-zirndorf.de/biennale.html finden sich die Öffnungszeiten der anderen Institutionen (Kunstmuseum Erlangen e.V., Galeriehaus Nord, Nürnberg, MUK - Kunstverein Zirndorf, Städtische Galerie im Bürgerhaus, Schwabach) und deren Programm! © Hans-Peter Miksch