Wer ist Milena? Für die amerikanische Künstlerin Sharon Lockhart (*1964) ist sie eine spezifische Freundin, für das Publikum steht das Mädchen Milena exemplarisch für einen jungen Menschen, der sich trotz widriger Lebensumstände behauptet. Sharon Lockhart porträtiert das Waisenmädchen auf dem Weg vom Kind zur Erwachsenen. Die aussergewöhnliche Freundschaft zwischen Milena und Sharon Lockhart ist Ausgangspunkt der Ausstellung im Kunstmuseum Luzern. Milena, Milena ist die dritte Station eines Ausstellungsprojektes, welches aus der Freundschaft von Sharon Lockhart zu Milena gewachsen ist. Die Künstlerin interessiert sich generell für Menschen und Orte, die vergessen oder übersehen werden. Für ihre Projekte wird sie Teil von deren Alltag und schafft in minimalistisch gehaltener Ästhetik berührende Porträts von Individuen und sozialen Gruppen. Sharon Lockhart bedient sich für ihre Installationen, Fotografien und Videos Strategien und Methoden der Dokumentation, Anthropologie oder Soziologie.Sharon Lockhart und Milena freundeten sich 2009 während der Dreharbeiten zum Film Podwórka (in der Ausstellung zu sehen) in Łodź an. Als Podwórka 2013 im CCA Ujazdowski Castle in Warschau gezeigt wurde, konnte sich Lockhart erneut mit Milena treffen. Ihre Bekanntschaft wurde zu Freundschaft und intensivierte sich durch lange Gespräche. Milena wollte ihre eigene Geschichte erzählen, und gemeinsam mit Sharon Lockhart begann sie nach der passenden Form für eine Erzählung zu suchen.
Die Ausstellung Milena, Milena, die sich über drei Institutionen und über eine Spanne von drei Jahren ausdehnt, wartet bei jeder Station mit einer leicht veränderten Werkauswahl auf und bildet so die organische Entwicklung des Projekts ab. Mit den Schwerpunkten «Forschung» (CCA Ujazdowski Castle, Warschau, 2013), «Produktion» (Bonniers Konsthall, 2014) und «Kontextualisierung» (Kunstmuseum Luzern, 2015), widerspiegelt Milena, Milena die Höhepunkte aus Lockharts künstlerischer Karriere und Schaffen.
Die Ausstellungstrilogie umfasst eine Reihe von Porträts und wird von zwei Werken mit subtilem autobiografischem Hintergrund flankiert: Sie beginnt mit Double Tide (2009), einer cinematischen Tour de Force – entstanden in Maine in den USA, wo Lockhart aufwuchs – und sie endet mit der selten ausgestellten Serie Untitled Studies (ab 1993), dem fotografischen Tagebuch der Künstlerin, das aus Neuaufnahmen von Schnappschüssen aus dem Familienalbum besteht. Im narrativen Zentrum der Ausstellung steht Milena: eine enigmatische Figur, die auf beunruhigende Weise abwesend wirkt und dabei zwischen Identifikation und Repräsentation oszilliert.
Sharon Lockharts ethnografisch inspirierte Untersuchung von Authentizität, die bestimmt wird von soziologischen und psychologischen Faktoren, aber auch von verhaltensbezogenen Zeichen von Kultur und dem Einfluss des kollektiven Bewusstseins, hallt in einer Serie mit drei Aufnahmen von Milena nach (Milena, Jarosław, 2013, 2014). Die Serie fängt Milenas ambivalente Beziehung zur Kamera ein – und wird in einem weiteren Werk Lockharts zelebriert, das im Handwerk der Glasmalerei gefertigt wurde (I, Milena, Jodłówka, 2013). Die Wahl dieses Mediums bezeugt Lockharts andauernde, konzeptuelle Untersuchung der spezifischen Qualitäten eines Bildes. Auf dem monumentalen Tableau aus Farbglas ist Milena zu sehen, die die Buchstaben ihres Namens mit Licht in die Nacht zeichnet. Die mittelalterliche Technik der Glasmalerei verwandelt den ursprünglich digitalen Schnappschuss in ein analoges Gemälde von monumentaler Grösse und Form und wird zum Porträt eines jungen Teenagers, der sich in der Welt behauptet.
Lockharts jüngeres Werk ist eine Studie über Intimität, die sich zu grossen Teilen auf ihre Begegnung mit den Schriften von Janusz Korczak (1878–1942) stützt. Korczak war ein polnisch-jüdischer Pädagoge, Kinderbuchautor und Kinderarzt. Er experimentierte mit Methoden der institutionellen Erziehung, die von einer entwicklungsorientierten Entfaltung der angeborenen kindlichen Fähigkeiten ausgingen. Als Stellvertreter eines sozialpädagogischen Bildungsbegriffs und Pionier der Kinderrechte träumte Korczak von einer Zukunft, in der Kinder ihre Welt selbst strukturieren und Experten ihrer eigenen Anliegen sein konnten. Korczak lebte den Grundsatz «sprich nicht zu den Kindern, sondern mit ihnen».
Für die Ausstellung in Luzern hat Sharon Lockhart ein neues Filmprojekt realisiert, in dem Milena erneut als Protagonistin auftritt. 400 Blows (2014/2015) basiert auf den exakt gleichen Kameraeinstellungen und lässt dieselbe Background-Musik erklingen wie die Schlussszene von François Truffauts Film 400 Blows (Les Quatre Cents Coups / Sie küssten und sie schlugen ihn, 1959). Als eingängige Metapher für das Erwachsenwerden bringt Milenas reale Biografie die Künstlerin dazu, die fiktive Szene eines Films nachzuspielen. Realität und Fiktion verschmelzen hier wirklich – das ist eine der grössten Qualitäten von Lockharts Werk.
kuratiert von Adam Budak und Fanni Fetzer in Kooperation mit CCA Ujazdowski Castle, Warschau, und Bonniers Konsthall, Stockholm