„Die Mauskriptseiten erlauben es, Kafka beim Schreiben über die Schulter zu schauen. So erhält man einen Eindruck davon, wie einer der wichtigsten Romane der Moderne entstand.Es ist spannend zu beobachten, welche Wörter Kafka korrigiert, welche Teile er streicht, wie er seinen Text zu Kapiteln ordnet – und wie sein Freund Max Brod nach Kafkas Tod die Manuskriptseiten zur Veröffentlichung neu sortiert“, erklärte die Leiterin des Buddenbrookhauses, Dr. Birte Lipinski. Und fügte hinzu: „Kafkas Texte haben Generationen von Lesern Rätsel aufgegeben. Deshalb ist das Schreiben über den Prozess, also der Leserkommentar, ein weiteres Thema der Ausstellung. Wir laden alle Besucher ein, mit uns und den ganz unterschiedlichen Kommentatoren über den Prozess nachzudenken.“Die Ausstellung Kafka – Der ganze Prozess ist eine Wanderausstellung des Deutschen Literaturarchivs Marbach und des Literaturmuseums der Moderne. Die Abdrucke der 161 Manuskriptblätter machen Kafkas Schreibweise, seine Korrekturen, Streichungen und Ergänzungen sichtbar. Das Buddenbrookhaus erweitert die Ausstellung zusätzlich: Anhand von Kafkas Tagebucheinträgen wird die bisweilen quälend-düstere emotionale Welt des Autors während des Entstehungs- und Schreibprozesses erfahrbar. Aber schreiben werde ich trotz alledem, unbedingt, es ist mein Kampf um die Selbsterhaltung (Franz Kafka, Tagebucheintrag vom 31.7.1914).
Ein weiterer Schwerpunkt der Ausstellung ist ein heutiger Blick auf Kafka: Wissenschaftler kommentieren die Blätter ebenso wie Schriftsteller und bildende Künstler, darunter Hanns- Josef Ortheil, Jaroslav Róna, Saul Friedländer, Wilhelm Genazino, Brigitte Kronauer und Klaus Wagenbach. Damit ist das Thema „Schreiben“ in der Ausstellung noch auf andere Weise angelegt: im Schreiben über den Prozess. Ergänzt werden diese Kommentare durch Werke von Gefangenen der Justizvollzugsanstalt Lübeck, die nach einer Lesung aus Kafkas Roman ihre eigenen Erfahrungen und Eindrücke niedergeschrieben und gezeichnet haben. Sie bieten eine weitere, eindrückliche Perspektive auf den Text.
Kafka im Buddenbrookhaus zu zeigen, hat einen ganz eigenen Reiz – längst nicht nur deshalb, weil Kafka direkt vor Beginn der Niederschrift seines Fragments Der Prozess, im Juli 1914, nach Lübeck und Travemünde reiste. Er selbst las schon früh Thomas Mann – umgekehrt schrieb dieser 1940 eine Hommage an den Autor als Einleitung für eine Kafka- Ausgabe. Auch Thomas Manns Sohn Klaus war ein begeisterter Leser Kafkas, wie seine Tagebücher verraten. Er stellte sogar eine Fotografie des Schriftstellers bei sich auf. Wenn nun die Entstehung des Romans Der Prozess im Buddenbrookhaus gezeigt wird, bietet sich damit auch die Möglichkeit einer kontrastierenden Betrachtung zweier großer Romane des frühen 20. Jahrhunderts. Dabei werden ganz unterschiedliche Schreibprozesse sichtbar: der bis ins Detail planvolle Entwurf Thomas Manns und das wuchernd-anwachsende Schreiben Kafkas.
Nicht nur das Buddenbrookhaus widmet sich Kafka. Das Theater Lübeck bringt Amerika auf die Bühne, inszeniert von Mirja Biel. Das Stück ist bis zum 19. Juni zu sehen.
Zitate Kafkas, die in der Ausstellung zu hören sind„Meine Unfähigkeit zu denken, zu beobachten, festzustellen, mich zu erinnern, zu reden, mitzuerleben wird immer größer, ich versteinere, […]. Wenn ich mich nicht in einer Arbeit rette, bin ich verloren.“ (28. 7. 1914)
„Mißlungene Arbeiten angefangen. Ich gebe aber nicht nach trotz Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, allgemeiner Unfähigkeit.“ (29.7.1914)
Es ist allgemeine Mobilisierung. […] Aber schreiben werde ich trotz alledem, unbedingt, es ist mein Kampf um die Selbsterhaltung. (31.7.1914)
Von der Litteratur aus gesehen ist mein Schicksal sehr einfach. Der Sinn für die Darstellung meines traumhaften innern Lebens hat alles andere ins Nebensächliche gerückt […]. Nichts anderes kann mich jemals zufrieden stellen. Nun ist aber meine Kraft für jene Darstellung ganz unberechenbar […]. So schwanke ich also, fliege unaufhörlich zur Spitze des Berges, kann mich aber kaum einen Augeblick oben erhalten.“ (6.8.1914)
Gestern und heute 4 Seiten geschrieben, schwer zu überbietende Geringfügigkeiten. (7.8.1914)
„Ich schreibe seit paar Tagen, möchte es sich halten. […] [I]mmerhin habe ich doch einen Sinn bekommen, mein regelmäßiges, leeres, irrsinniges junggesellenmäßiges Leben hat eine Rechfertigung. Ich kann wieder ein Zwiegespräch mit mir führen und starre nicht so in vollständige Leere. Nur auf diesem Wege gibt es für mich eine Besserung.“ (15.8.1914)
„Schluß eines Kapitels misslungen, ein anderes schön begonnenes Kapitel werde ich kaum oder vielmehr ganz bestimmt nicht so schön weiterführen können, während es mir damals in der Nacht sicher gelungen wäre. Ich darf mich aber nicht verlassen, ich bin ganz allein.“ (29.8.1914)
„Ich fühle allzu sehr die Grenzen meiner Fähigkeit […].Trotzdem ist in diesen Grenzen Raum zum Leben und dafür werde ich sie wohl bis zur Verächtlichkeit ausnützen.“ (30.8.1914)
„In gänzlicher Hilflosigkeit kaum 2 Seiten geschrieben. […] Aber ich weiß daß ich nicht nachgeben darf, wenn ich über die untersten Leiden des […] Schreibens in die größere auf mich vielleicht wartende Freiheit kommen will.“ (1.9.1914)
„Wieder kaum 2 Seiten. […] [E]in Dumpfsein, das immer wieder kommt und immer wieder überwunden werden muß. […] [D]ie große Hilfe des Schreibens [will] ich mir jetzt nicht mehr entreißen lassen […].“ (13.9.1914)
„Ich habe mir eine Woche Urlaub genommen, um den Roman vorwärtszutreiben. Es ist bis heute […] mißlungen. Ich habe wenig und schwächlich geschrieben.“ (7.10.1914)
„14 Tage, gute Arbeit zum Teil, vollständiges Begreifen meiner Lage. […] ich habe noch eine weitere Woche Urlaub genommen.“ (15.10.1914)
„Seit 4 Tagen fast nichts gearbeitet, immer nur eine Stunde und nur paar Zeilen, aber besser geschlafen, Kopfschmerzen dadurch fast verloren.“ (21.10.1914)
„Fast vollständiges Stocken der Arbeit.“ (25.10.1914)
„Gestern nach langer Zeit ein kleines Stück gut vorwärtsgekommen, heute wieder fast nichts […]. Und es ist nicht einmal Versagen, ich sehe die Aufgabe und den Weg zu ihr, ich müßte nur irgendwelche dünne Hindernisse durchstoßen und kann es nicht.“ (1.11.1914)
„nichts mehr gearbeitet, zum Teil auch deshalb, weil ich mich fürchtete eine gestern geschriebene erträgliche Stelle zu verderben. Der vierte Tag seit August, an dem ich gar nichts geschrieben habe.“ (3.11.1914)
„Leere Verzweiflung“ (25.11.1914)
„Ich kann nicht mehr weiterschreiben. Ich bin an der endgiltigen Grenze, vor der ich vielleicht wieder Jahre lang sitzen soll, um dann vielleicht wieder eine neue, wieder unfertig bleibende Geschichte anzufangen.“ (30.11.1914)
„Unbedingt weiterarbeiten, es muß möglich sein trotz Schlaflosigkeit und Bureau.“ (2.12.1914)
„Gestern zum erstenmal seit längerer Zeit in zweifelloser Fähigkeit zu guter Arbeit. […] Wieder eingesehn, daß alles bruchstückweise […] Niedergeschriebene minderwertig ist und daß ich zu diesem Minderwertigen durch meine Lebensverhältnisse verurteilt bin.“ (8.12.1914)
„Statt zu arbeiten […] in fertigen Kapiteln gelesen und sie zum Teil gut gefunden.“ (13.12.1914) „Jämmerliches Vorwärtskriechen der Arbeit, vielleicht an ihrer wichtigsten Stelle dort wo eine gute Nacht so notwendig wäre.“ (14.12.1914)
„Gar nichts gearbeitet.“ (15.12.1914)
„schrieb ruhig 3 Stunden“ (19.12.1914)
„Seit August gearbeitet, im allgemeinen nicht wenig und nicht schlecht, aber weder in ersterer noch in letzterer Hinsicht bis an die Grenzen meiner Fähigkeit, wie es hätte sein müssen, besonders da meine Fähigkeit aller Voraussicht nach (Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Herzschwäche) nicht mehr lange andauern wird. Geschrieben an Unfertigem: Der Proceß, Erinnerungen an die Kaldabahn, Der Dorfschullehrer, Der Unterstaatanwalt und kleinere Anfänge. An Fertigem nur: In der Strafkolonie und ein Kapitel des Verschollenen, beides während des 14 tägigen Urlaubs. Ich weiß nicht, warum ich diese Übersicht mache, es entspricht mir gar nicht.“ (31.12.1914)
„fast unfähig den Proceß fortzusetzen.“ (6.1.1915)
„Ich glaube heute einzusehen, wie eng meine Grenzen sind, in allem und infolgedessen auch im Schreiben.“ (17.1.1915)
„Ich werde solange ich in die Fabrik gehen muß nichts schreiben können. Ich glaube es ist eine besondere Unfähigkeit zu arbeiten die ich jetzt fühle, ähnlich jener, als ich in der Generali angestellt war. Die unmittelbare Nähe des Erwerbslebens benimmt mir trotzdem ich innerlich so unbeteiligt bin, als es nur möglich ist, jeden Überblick […].“ (19.1.1915)
„Ende des Schreibens. Wann wird es mich wieder aufnehmen? […] Die mit Aufgabe des Schreibens sofort eintretende Schwerfälligkeit des Denkens, […]. Möge ich den einzig hiebei denkbaren Gewinn genießen: bessern Schlaf.“ 20.1.1915 „Ich lasse nichts nach von meiner Forderung nach einem phantastischen nur für meine Arbeit berechneten Leben, sie [Felice Bauer] will stumpf gegen alle stummen Bitten das Mittelmaß, die behagliche Wohnung, Interesse für die Fabrik, reichliches Essen, Schlaf von 11 Uhr abends an, geheiztes Zimmer, […].“ (24.1.1915)
„wieder zu schreiben versucht, fast nutzlos.“ (29.1.1915)
„Die alte Unfähigkeit. Kaum 10 Tage lang das Schreiben unterbrochen und schon ausgeworfen. Wieder stehn die großen Anstrengungen bevor. Es ist notwendig förmlich unterzutauchen und schneller zu sinken als das vor einem versinkende.“ (30.1.1915)
„Vollständige Stockung. Endlose Quälereien.“ (7.2.1915)
AdresseKönigstraße 9-1123552 Lübeck
Öffnungszeiten01.01.-31.03. | Di-So | 11-17 Uhr01.04.-31.12. | Di-So | 10-17 Uhr
EintrittspreiseErwachsene / Ermäßigte / Kinder:6 / 3 / 2 €
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