René Burri, 1933 in Zürich geboren, Absolvent der Kunstgewerbeschule (heute Zürcher Hochschule der Künste, ZHdK), ein Schüler von Hans Finsler und Alfred Willimann, zählt zu den profiliertesten Fotografen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nicht nur umspannt sein Werk sage und schreibe sechs Jahrzehnte der neueren Geschichte, es tangiert auch praktisch alle Gattungen dokumentierender Fotografie – von der Reportage über den Essay bis hin zum Porträt, Architekturbild oder Landschaftsfoto. Vor allem schlägt Burri mit seinem Oeuvre die Brücke vom Auftrag zum Selbstauftrag, vom Journalismus zur Kunst. Von Anfang an hat er sich als verlässlicher Dienstleister, als engagierter Journalist, als Zeitzeuge mit der Kamera verstanden, aber eben auch als Fotograf, der sich – ohne sich explizit als «Künstler» zu bezeichnen – stets für die formal-ästhetische Seite seines Mediums interessierte. Was für René Burris schwarzweiße, das Chaos der Welt ordnende, an Geometrien, Strukturen, an Atmosphäre oder überraschenden Momenten interessierte Bildsprache gilt, gilt nicht weniger für sein Farbschaffen: Auch hier tritt neben den Dokumentaristen der künstlerisch interessierte «Autorenfotograf».Als René Burri Mitte der 50er Jahre in die professionelle Fotografie wechselte, gab es mindestens ebenso viele Gründe, sich der Farbfotografie zu verweigern, wie es Argumente gab, sich ihr gegenüber aufgeschlossen zu zeigen. Was sicher fehlte, war ästhetische Orientierung. René Burri konnte dies nicht davon abhalten, sich früh der Farbe zuzuwenden. Da war einmal der wachsende Ruf seiner Auftraggeber im Printbereich – Zeitschriften wie Life, Look, Du, Stern oder Paris Match – nach der Farbe. Da war seine visuelle Neugier, aber auch sein anarchisch unterfütterter Hang zum Experiment. Da war seine Affinität als nimmermüder Zeichner zum Ausdrucksmittel Farbe. Und da war, natürlich, die Ahnung, dass man einer bunter werdenden Populärkultur nur mit Farbe begegnen konnte, gemäß einer Erkenntnis von Neal Slavin: “A gold trophy can mean something different from a silver trophy and the distinction cannot be rendered in black and white.“ In diesem Sinne hat René Burri immer journalistisch gedacht sprich: Eine farbiger werdende Welt mit Farbumkehrfilm erkundet. Über Jahrzehnte führte Burri bei seinen zahllosen Reisen wenigstens zwei Kleinbildkameras mit sich, die eine für Tri-X, die andere für Kodachrome, um jetzt eine Welt in Grauwerten, Strukturen, harten Kontrasten zu sehen und wenig später in ihr sinnstiftende Farben zu entdecken.
Was Burri von vielen Farbfotografen unterscheidet: Er reflektiert die Farbe, und er denkt sie immer wieder neu. Wo er als Bildjournalist eine pointierte Aussage trifft, liebt der am Spiel der Formen und Farben interessierte „Künstler“ die Verwirrung, das Rätsel, das Geheimnis. Immer wieder finden wir in seinen Farbaufnahmen Irritation stiftende Durchblicke, Ein- oder Ausblicke.
Fenster und Spiegel spielen eine erhebliche Rolle, doppeln die Welt: Irrgärten für die Augen. Auch das Thema «Bild im Bild» kommt immer wieder vor, die Welt als Bühne, der Alltag als Theater. Burri wagt kühne Anschnitte, gefällt sich in Andeutungen, jongliert mit Vordergrund und Hintergrund, spielt mit Schärfe und Unschärfe, wählt ungewöhnliche Perspektiven, erkundet die Welt von oben. „Sculpteur de l’image“, hat man ihn einmal genannt, was mit Blick auf die Schwarzweißfotografie sicher zutrifft, dem subtilen Umgang mit der Farbe allerdings nicht wirklich Rechnung trägt.
René Burris Farbwerk ist in hohem Masse welthaltig, dem Leben verpflichtet, voller Neugier auf andere Lebensformen und Kulturen und deren farbliche Palette. Und es ist in hohem Masse politisch interessiert. In keiner seiner Bildfindungen ist der Einsatz der Farbe purem Formwillen geschuldet. Eigentlich immer schwingt eine soziale, politische, historische Botschaft mit, die sich oft genug erst über die Bildunterschrift erschließt. Auch darin unterscheidet sich René Burri von vielen der Farbe verpflichteten Kamerakünstlern: Sein Kosmos ist persönlich, aber nicht privat, formal interessiert, aber nicht formalistisch, subjektiv, aber nicht beliebig, oft genug tröstlich, aber nicht dekorativ. Gewisse Motive sind von unerhörter, dem überlegten Einsatz der Farbe geschuldeten Wucht. Andere – wie die frühen Bilder aus der Schweiz – zeichnet eine staunenswerte Zartheit aus, eine Art Suspense in den Farben. Anders gesagt: Burris Beitrag zur neueren Farbfotografie ist nicht monolithisch, sondern spiegelt ein immerwährendes Suchen, Experimentieren, ein Probieren über viele Jahre wider. Burri folgt nicht einer Idee, einem wie auch immer gearteten Dogma, sondern erfindet sich immer wieder neu. Zu seinem Stil gehört, sich keinem zu verschreiben. Jedes Bild ist ein Kosmos für sich, durchaus dokumentarisch und zugleich das Resultat eines für das Medium Farbe sensibilisierten Blicks. Früh und ohne Flankenschutz durch Kuratoren, Kritiker, Museumsleute gelangte René Burri zu ganz eigenen Lösungen auf einem weitgehend unbeackerten Terrain. Fraglos zählt er zu den Protagonisten einer Farbfotografie mit künstlerischem Anspruch. Nach fünf Jahrzehnten fotografischer Praxis kann René Burri auf ein reiches Farbwerk blicken, das diese Ausstellung im Museum für Gestaltung Zürich nun erschließt und als eigenständigen Beitrag zu «New Color» würdigt. Dazu zeigt die Ausstellung ebenfalls erstmals die Kurzgeschichten rund um einige der berühmten schwarzweiß Bilder des Fotografen und komplettiert damit René Burris Aussage:
«Als Fotograf habe ich ein Doppelleben geführt – eines in Schwarz-Weiß und eines in Farbe» Hans-Michael Koetzle