„0,10“ markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der modernen Kunst und beschreibt jenen historischen Moment, als Kasimir Malewitsch seine ersten nicht-gegenständlichen Gemälde schuf und Wladimir Tatlin mit seinen revolutionären Konter-Reliefs an die Öffentlichkeit trat. Die meisten anderen Künstler, die an der ursprünglichen Ausstellung beteiligt waren, werden ebenfalls in der kritisch rekonstruierten Version der Fondation Beyeler vertreten sein: Natan Altman, Wassili Kamenski, Iwan Kljun, Michail Menkow, Vera Pestel, Ljubow Popowa, Iwan Puni, Olga Rosanowa, Nadeschda Udalzowa und Marie Vassilieff.
Zugleich ehrt „Auf der Suche nach 0,10 – Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei“ das ikonische Werk von Kasimir Malewitsch „Das schwarze Quadrat“ und zelebriert dessen 100jähriges Jubiläum. Das monochrome Gemälde war pure Provokation, denn es zeigte nichts als eine leicht verzerrte, schwarze Fläche, die weiss umrandet war. Zudem hing es innerhalb der Präsentation im sogenannten Gotteswinkel, wo sonst Ikonen das Haus schmückten. Kompromisslos und enigmatisch, sorgten die Werke des Suprematismus für einen schlagartigen Paradigmenwechsel in der Kunstszene.
Die Werke werden äusserst selten geliehen: zum ersten Mal wird eine derart reich bestückte Präsentation suprematistischer Werke in der Schweiz präsentiert. Jahrelange Recherchen und ein lange gepflegter, kunstwissenschaftlicher Austausch mit namhaften russischen Museen gingen dieser Zusammenarbeit im Jubiläumsjahr des Schwarzen Quadrats voraus. Z.B. fanden bereits ab 2008 mit ersten Einzelausstellungen zu Alberto Giacometti und Paul Klee (2013) in Russland, letztere als Kooperation der Fondation Beyeler und des Zentrums Paul Klee, hochkarätige Kooperationen statt.
Die ausgestellten Werke und Dokumente wurden aus Museen, Archiven und privaten Sammlungen zusammen getragen. Neben der Tretjakow-Galerie in Moskau und dem Russischen Museum in Sankt Petersburg tragen 14 regionale russische Museen sowie führende internationale Institutionen wie das Centre Georges Pompidou in Paris, das Stedelijk Museum in Amsterdam, das Museum Ludwig in Köln, die Sammlung George Costakis aus Thessaloniki, das Art Institute of Chicago, das MoMA in New York mit raren und wertvollen Leihgaben zur Ausstellung bei.
Zum ersten Mal in der russischen und westlichen Ausstellungspraxis werden die wertvollen Leihgaben in der Ausstellung der Fondation Beyeler vereint und mit Werken derselben Künstlerinnen und Künstler aus demselben Zeitraum ergänzt, um die einzigartige, energiegeladene Atmosphäre des künstlerischen Aufschwungs im Russland des frühen 20. Jahrhunderts aufleben zu lassen.
Gastkurator ist Matthew Drutt, der bereits für die grossen Malewitsch-Retrospektiven im Guggenheim Museum, New York, und in der Menil Collection, Houston, verantwortlich war. Parallel dazu ist in der Fondation Beyeler auch die Ausstellung „Black Sun“ zu sehen. Sie präsentiert Werke von insgesamt 36 Künstlern des 20. und 21. Jahrhunderts in unterschiedlichen Medien wie Malerei, Skulptur, Installation und Film sowie Kunst im öffentlichen Raum. Entstanden als Hommage an Malewitsch und Tatlin, beschäftigt sich „Black Sun“ aus heutiger Perspektive mit dem enormen Einfluss der zwei Vertreter der russischen Avantgarde auf die künstlerische Produktion bis in die Gegenwart. Die Ausstellung wurde in enger Zusammenarbeit mit einigen der ausgestellten Künstlern realisiert.
* Die ursprüngliche Ausstellung „0,10“, die das Künstlerpaar Iwan Puni und Xenia Boguslawskaja organisierte, wurde am 19. Dezember 1915 in Petrograd mit mehr als 150 Werken von rund 14 Künstlern der russischen Avantgarde eröffnet, von denen die meisten entweder Parteigänger Malewitschs oder Tatlins waren. Von den rund 150 im Winter 1915-1916 in Petrograd ausgestellten Werken ist heute nur ein Drittel erhalten geblieben. Als Ausstellungsort diente die Galerie von Nadeschda Dobytschina. Sie gilt als erste Galeristin Russlands. Bereits seit 1911 nutzte sie einige Räume ihrer grosszügig dimensionierten Wohnung als Ausstellungsfläche und war innerhalb der Kunstszene wohl bekannt.
Der Titel „0,10“ (null-zehn) ist keine mathematische Formel, sondern ein Kode, der auf die Idee von Malewitsch zurückgeführt wird: Die Null sollte die Zerstörung der alten Welt – auch der Welt der Kunst – und zugleich den Neubeginn symbolisieren. Die Zahl 10 geht auf die ursprünglich geplante Zahl der teilnehmenden Künstler zurück. Auch die Worte „letzte futuristische“ sind als Kodierung zu verstehen: Damit wollte man zeigen, dass man sich vom Einfluss des italienischen Futurismus nun distanzieren, ja befreien wollte. Es wird klar, in welch rasantem Tempo Stilrichtigen damals einander ablösten: War man Anfang 1915 vom Futurismus noch begeistert, forderte man Ende des Jahres eine Loslösung davon. Das Umfeld der Ausstellung begleiteten leidenschaftliche Stellungnahmen und stürmische Auseinandersetzungen unter den Teilnehmern. Bei der Planung wurden noch in letzter Minute Änderungen vorgenommen, so wich die finale Teilnehmerzahl doch noch vom Titel ab, da manch einer kurzfristig absprang, wobei andere überraschend hinzukamen. Insgesamt stellten 14 Künstler ihre Arbeiten aus: 7 weibliche und 7 männliche, denn die Ausstellungsmacher bestanden auf Parität der Geschlechter. Zwei der Ausstellungsteilnehmer ragten mit ihren Arbeiten als Vorboten absolut neuer, radikaler Wege für die Weiterentwicklung der Kunst heraus. Zum einen war es Kasimir Malewitsch, der im Rahmen der Letzten Futuristischen Ausstellung der Malerei 0,10 mit seinen völlig abstrakten, aus geometrischen Figuren bestehenden Gemälden eine bis dahin nicht gekannte Dimension der bildenden Kunst erschloss. Für seine Arbeiten kreierte er den Namen „Suprematismus“ (vom lat. supremus=das Höchste), was seine Ansprüche auf die führende Rolle in der Kunst offen legte. Zum anderen war es Wladimir Tatlin, der mit seinen ebenfalls abstrakten, aus kunstfremden Materialen geschaffenen Skulpturen, neue Lösungen für eine vom klassischen Sockel befreite Skulptur anbot. Auch wenn die ursprüngliche Ausstellung in ihrem Charakter alles andere als einheitlich war – es gab eine grosse Vielfalt an künstlerischen Stilen und ästhetischen Programmen –, so wirkte sie doch wie ein Weckruf, der das Ende des Kubo-Futurismus als vorherrschendem Trend in der russischen Malerei besiegelte und völlig neue Wege des Experimentierens eröffnete. Nach jener Schau avancierten Malewitsch und Tatlin sofort zu den Anführern der europäischen Avantgarde.
* Natürlich kann das Projekt der Fondation Beyeler nicht den Anspruch erheben, die Ausstellung von 1915 originalgetreu rekonstruieren zu wollen – viele der damaligen Exponate sind verschollen oder zerstört –, dennoch wird es zahlreiche Originalwerke der ursprünglichen Ausstellung präsentieren, ergänzt um andere zeitgenössische Meisterwerke derselben Künstler, und damit den Besuchern einen ganz konkreten Eindruck von der künstlerischen Energie verschaffen, die im Russland des frühen 20. Jahrhunderts so überreich vorhanden war.
Welchen Einfluss „0,10“ noch heute auf Künstlerinnen und Künstler ausübt, macht eine zweite Ausstellung deutlich: „Black Sun“ wird mit Werken zeitgenössischer Künstler den Weg zur Abstraktion und der geheimnisvollen Nichtfarbe Schwarz nachzeichnen.
Täglich 10 - 18 Uhr, mittwochs 10 - 20 Uhr.Das Museum ist an allen Sonn- und Feiertagen geöffnet.Erwachsene CHF 25.–Gruppen ab 20 Personen* und IV mit Ausweis CHF 20.
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